Seit fünf Jahren arbeite ich an einem Film über unsere neue Heimat Nordhessen. Am Sonntag ist Kinopremiere. Wie erzählt man als Neubürger die Geschichte einer Region? Geht das überhaupt? Dazu heute ein Einblick in die Produktion: 50 Jahre Schwalm-Eder-Kreis.

50 Jahre Schwalm-Eder-Kreis

Wie erzählt man die Geschichte einer Region?

Ich erinnere mich sehr gut an den Anfrage des Landkreises vor fünf Jahren: Sie sind doch Filmemacher. Wir feiern 2024 das 50jährige Bestehen des Schwalm-Eder-Kreises und hätten gerne einen Imagefilm.

Mein erster Gedanke: Wow, die sind gut aufgestellt. Machen sich bereits fünf Jahre vor dem Jubiläum Gedanken, wie sie als Region gut präsentieren können. Danach begann bei mir als Filmemacher das große Kopfkino. Ich erinnerte mich an die Begrüßung von Einheimischen beim Einzug: “Wie kann man so blöd sein, hierher zu ziehen?”

Meine Frau und ich haben oft über diese Sätze nachgedacht. Warum gibt es in Nordhessen bei manchen Einwohnern so ein angeknackstes Identitätsgefühl? Als Neubürger haben wir eine ganze Liste von positiven Beobachtungen notiert.

Ein angeknackstes Identitätsgefühl

Zentrale Lage, exzellente Anbindung an die großen Autobahnen, Nord-Süd-Ost-West, zudem eine neue ICE-Verbindung. Eine wunderschöne Landschaft, malerische Fachwerk-Orte mit saniertem Fachwerk. Eindrucksvolle Geschichte als Kernland der Reformation. Kein Fluglärm – bis auf sporadische Übungsflüge der Bundeswehr. Kein Lichtsmog, sondern einen eindrucksvollen Sternhimmel bei Nacht.

Historisch gab es einen gravierenden Einschnitt: Der Bau der Mauer hat Nordhessen für drei Jahrzehnte vom bedeutenden Ost-West-Handel abgeschnitten. Teile der Region waren Zonen-Grenzbezirk, fühlten sich abgehängt. Doch auch das ist längst Geschichte – mittlerweile hat sich Nordhessen als vitaler Industrie und Logistikstandort etabliert.

Ich habe drei Monate recherchiert und unterschiedliche Konzepte entwickelt, wie ich meinen Film über die neue Heimat machen will. Im Dezember 2019 hat mich der Landrat und sein Team eingeladen, meine Vorschläge zu präsentieren.

Die Bürger sollen selbst erzählen

Nach drei Jahren als Neubürger war mir klar: Ich will keinen Schlauberger-Film machen, in dem eine sonore Märchenonkel-Stimme erzählt, warum hier alles so schön ist. Das passt nicht zur Mentalität von Nordhessen. Ohnehin sind diese “Wir-loben-uns-selbst-Filme” nicht sehr glaubwürdig.

Stattdessen hatte ich die Idee, 20 Bewohner aus den unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen ihre Geschichte erzählen zu lassen: Handwerker und Bauern, Künstler und Händler, Lehrer und Industrielle, Sportler und Trachtenträger.

Als unsichtbaren Faden hatte ich mir die Devise von Frank Sinatra vorgenommen: „I did it my way“. In kleinen Geschichten soll die Einzigartigkeit der Region sichtbar werden: Persönlichkeiten, die ihren Weg gefunden haben und die Herausforderungen des Lebens auf die „nordhessische Art“ realisieren.

Eine Produktion über fünf Jahre

Der Landrat und die Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit fanden die Idee gut. Sie haben jedes Jahr einige Bürger ausgewählt, die im Film unsere Region repräsentieren sollen.

Gemeinsam mit dem jungen Kameramann Josua Graf habe ich jeden Sommer einige Akteure besucht und sie gebeten, ihre Geschichte zu erzählen. Mir war es wichtig, sie authentisch wie möglich in ihrem eigenen Umfeld, bei der Arbeit im Alltag zu zeigen.

Ungeschminkt und ehrlich: Wie sind sie in die Region gekommen? Was bewegt sie? Was schätzen sie? In welchem Bereich setzen sie sich gesellschaftlich ein?

Über die letzten Jahre sind unterschiedliche Geschichten entstanden, die hoffentlich beim Zuschauer ein Aha-Erlebnis auslösen: Interessant, so was gibt es hier auch? Das wusste ich gar nicht!

50 Jahre Schwalm-Eder-Kreis

Natürlich ist so ein Film auch eine Momentaufnahme. Ein Beispiel sind die beiden Brüder Carsten und Samuel Waldeck, die mit ihrem Shiftphone ein nachhaltiges Handy entwickelt haben. Im Film erzählen sie, wie sie über Jahre ein altes Fachwerkhaus saniert haben, um darin einen kleinen Dorfladen und ein Café zu eröffnen.

Während unserer Dreharbeiten war das ganze Haus noch desolat. Auch mit viel Phantasie war schwer vorzustellen, wie aus der Bruchbude ein Schmuckstück werden sollte. Doch mittlerweile ist der Gänsemarkt in Betrieb. Die Einwohner freuen sich über das Café und den kleinen Laden. Das Dorf hat wieder einen vitalen Treffpunkt.

Ich habe die Filmpassage, die wir bereits vor drei Jahren gedreht haben nicht geändert – die Aufnahmen haben heute schon einen historischen Charakter. Im Kinofilm, der am Sonntag um 18 Uhr öffentlich Premiere feiert, werden als Kontrast danach die fertigen Räume gezeigt. Das Leben in einer Region ist täglich im Wandel. Ich bin sehr gespannt, wie die Einwohner auf den Film reagieren und freue mich schon auf die Gespräche danach.

Vielleicht ist der Film auch eine Blaupause für andere Regionen: Mehr die Bürger und Wähler erzählen lassen. Ihnen zuhören, was sie bewegt und was ihr Leben ausmacht. Ich glaube das stärkt die Demokratie im regionalen Kleinen, aber auch im Großen.