In Goethes Notizbuch steht ein bemerkenswerter Satz: “Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt.” Überrascht blinzle ich in die Frühlingssonne. Es geht um die Kernfrage unserer Berufung: Der zu sein, der wir im tiefsten Inneren sind.

Talent
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Eine Zwangspause hilft beim Nachdenken

Ich bin seit einer Woche in der Stille. Eine Überanstrengung der Augen zwingt mich dazu für ein paar Tage den Computer auszuschalten. Während ich eine Zwangspause einlege habe ich Zeit, über mein eigenes Leben nachzudenken. Es geht um meine Berufung: Die Aufgaben, die ich in meinem neuen Lebensjahr noch stärker leben will.

Ein wichtiger Teil meines Lebens ist das Schreiben. Da es mit dem Computer gerade nicht geht, schreibe ich mit der Hand. Jeden Morgen notiere ich zwei bis drei Seiten, was mich innerlich derzeit bewegt.

Diese Morgenseiten sind eine Anregung von Julia Cameron. Sie helfen, den Seelenbalast abzulegen und in einen inneren Dialog mit meinen aktuellen Lebensfragen zu kommen. Seit dem Auszug der Firma aus dem Gutshof gibt es eine Fülle von offenen Fragen. Dieses permanente Nachdenken hat vermutlich auch meine Augen überanstrengt.

Wieviel Macht gebe ich anderen Menschen über mein Leben?

Eine der offenen Fragen, die mich derzeit umtreibt: Welchen Einfluss, welche Macht gebe ich anderen Menschen? Die Festlegung von Eltern in unserer Kindheit kann unsere Kreativität über Jahrzehnte blockieren: Du hast zwei linke Hände! Du bist unmusikalisch! Du kannst nicht schreiben! Die Liste ließe sich endlos fortführen.

Doch mitunter wird uns erst im fortgeschrittenen Alter bewußt, wie sehr diese Festlegung unser Talent lähmt. Wir verfolgen manche Träume nicht, weil wir diese Glaubenssätze immer noch in uns tragen. Statt neues kreatives Land zu erkunden.

Wenn ich schreibe, werden mir hin und wieder dieser Festlegungen bewusst. Dann merke ich, dass die Worte meiner Eltern immer noch eine gewisse Macht haben – obwohl diese schon seit Jahren tot sind. Ist das nicht kurios? Indem ich mir dessen bewusst werde, gehe ich den ersten Schritt der Befreiung. Ich entscheide, ob die Worte weiterhin Macht haben und mich blockieren. Alternativ kann ich mich davon aktiv distanzieren und neue Freiheit gewinnen.

Ein Spaziergang über den Friedhof

Der Bestseller-Autor Bas Kast berichtet in seiner Erzählung “Das Buch eines Sommers” von einem sehr glücklichen Mann. “Er hatte einen Trick”, schreibt Kast: “Einmal pro Woche unternahm er einen Spaziergang zum Friedhof.”

Die Figur in seinem Roman heißt Valentin, lebt als Schriftsteller in einer alten Villa. Die regelmäßigen Spaziergänge halfen Valentin “sich seiner Endlichkeit bewusst zu werden. Um die Kostbarkeiten des Lebens, jedes Augenblick des Lebens wieder zu spüren.”

Ich habe mich entschieden diesem Gedanken nachspüren und bin am Samstag auf unseren Dorffriedhof gegangen. In der Frühlingssonne konnte ich über die Vergänglichkeit meines eigenen Lebens nachdenken. Ich habe mich gefreut tausende von Krokussen zu entdecken.

Als ich zurück nach Hause kam, empfand ich eine tiefe Dankbarkeit für das Leben. Zudem bekam ich den kreativen Impuls für einen neuen Roman geschenkt, der mich sehr beflügelt hat.

Wenn uns die Realität plötzlich wachrüttelt

“Musterunterbrechung” nennen die Gehirnforscher diese aktive Unterbrechung: Den Ausstieg aus dem Alltagstrott. Manchmal ist es ein verpasster Flug oder ein ausgefallener Zug, der uns zum Nachdenken zwingt. Oder der Tod eines geliebten Menschen.

Meine Frau und ich haben in den letzten 10 Monaten eine tiefe Krise hautnah durchlebt: Der Aufprall in einer neuen Realität hat uns beide kräftig durchgeschüttelt. Eine lange gehegter Traum ist geplatzt.

Doch in der Stille nehme ich wahr, dass ich durch diese Vollbremsung wieder Handlungs-offen werde. Mein Leben, das langfristig geplant schien, bekommt eine neue Dynamik. Jetzt können wir neu entscheiden, wie und wo wir leben wollen. Das kann auch eine Chance sein, wie ein unerwartetes Geschenk.

Entscheidend ist die Frage, wie wir beide mit der “Musterunterbrechung” umgehen, welchen Schatz wir in der Krise entdecken, welche neue Aussicht wir gewinnen.

Ein Gefühl wie dünnes Porzellan

Haben Sie zuhause “Bone China”? Es ist hauchdünnes Porzellan, durchscheinend mit einer hohen Kantenfestigkeit. Kürzlich hatte ich gleich zwei Mal einen “Bone China”-Moment. Ich saß mit Freunden beim Frühstück. Unser Gespräch war so nah, so ehrlich – ganz ohne Maske und gleichzeitig so fragil.

Wenige Tage später saß ich mit einem langjährigen Freund im Café Vetter in Marburg. Wir blickten über die Dächer der Altstadt und erzählten einander, was uns im tiefsten Inneren bewegt. Wieder hatte ich dieses “Bone China”-Gefühl. Hauchdünn und zerbrechlich.

Ich nenne dies einen “Hauch von Ewigkeit”. Wenn wir die Vergänglichkeit des Lebens spüren: Dass dieser Moment nicht wiederkommen wird. “Wie dünn jene Schicht namens Leben ist, auf der wir uns alle bewegen”, formuliert es Bas Kast.

Das Bewusstsein des Todes

“Wenn wir unsere Endlichkeit fühlen, wenn wir sie so richtig spüren, dann befinden wir uns in einem Ausnahmezustand, der uns näher an die Realität bringt”, so Kast. “Das Bewusstsein des Todes ist das perfekte Heilmittel für die ewige Aufschieberitis.”

Damit komme ich zurück zu Goethe und den Talenten, die sich in der Stille bilden. Ich bin überzeugt, dass wir diese Zwangspausen brauchen, um unseren Begabungen näher zu kommen. Wir brauchen die Krise, das Innehalten, um neue Optionen zu entdecken.

Weitere Impulse finden Sie in meinem neuen Buch.