“Heut mache ich gar nicht, keinen Finger krumm”, singt Max Rabe. Im Land der Selbstdisziplin klingt das nach einer Todsünde. Doch Rabe besingt. was Psychologen als neue Erkenntnis präsentieren: Genuss bringt uns im Leben weiter als jede Disziplin.
Das Pflichtgefühl macht eine Pause
Ich sitze am Fenster und schaue in den Hof. Es ist Dienstagmorgen, 11 Uhr. Eigentlich Arbeitszeit. Doch ich sitze einfach nur so da und mache gar nichts.
Nun muss ich zugeben: Die heutige Pause, die ich hier beschreibe ist freiwillig: Vor drei Monaten war es eine Zwangspause. Meine Augen streikten. Ganz plötzlich – von heute auf Morgen. Über Tage konnte ich nicht mehr lesen, kein Bildschirm, kein Buch, kein TV.
Der Augenarzt hat mich gründlich durchgecheckt. Die Augen sind völlig in Ordnung. Meine Hausärztin nahm sich eine halbe Stunde. Ihre Diagnose: Erschöpfung – bei dem was sie hinter sich haben, sei das auch kein Wunder.
Einfachheit in turbulenten Zeiten
Die Vollbremsung hat mir geholfen, über mein Leben nachzudenken. Über das was wirklich wichtig im Leben ist. Die Beziehung zu meiner Partnerin, Freundschaften und mein Glaube.
Doch schnell kam ich auf die Kernfrage meiner Identität: Wer bin ich, wenn ich nichts leiste? Ich bin am Rande des Schwarzwaldes aufgewachsen. Seit Kindesbeinen habe ich die Regel “Erst die Arbeit dann das Vergnügen” inhaliert.
Ruhe halten wurde in meiner Familie nur toleriert, wenn jemand krank war oder an Sonntagen. Ansonsten galt die Maxime: “Nett schwätze, sondern schaffe!” Wenn ich an den einen oder anderen Verwandten denke: Echte Schaffer, aber miserable Genießer.
Wie hoch ist meine Genußfähigkeit?
Nun habe ich mich in meiner unfreiwilligen Auszeit auch mit dem Thema Genuss beschäftigt und bin dabei auf die beiden Forscherinnen Daniela Becker und Katharina Bernecker gestoßen. Sie haben in den letzten fünf Jahren mehrere Studien veröffentlicht.
Becker und Bernecker definieren “Genußfähigkeit als die Fähigkeit zum kleinen Alltagsglück.” Nach ihrer Forschung zeigen sich Menschen, die kleine Momente im Alltag genießen können, als “weniger ängstlich und niedergeschlagen.”
Doch ob wir wirklich genußfähig sind, liegt vor allem an unserer Aufmerksamkeit, so die Studienergebnisse. Wenn ich mit meiner Frau beim gemeinsamen Essen sitze, kommt es darauf an, ob wir in Gedanken noch Probleme wälze oder mit allen Sinnen aufmerksam sind.
Wer achtsam genießen kann, empfindet auch in seiner Beziehung eine höhere Zufriedenheit. Wer dagegen Mühe mit dem Genuss hat, “trinkt häufig, um sich zu beruhigen und negative Gedanken abzustellen.” Becker und Bernecker haben einen Test entwickelt, mit dem man in wenigen Minuten seine Genußfähigkeit überprüfen kann. Ich war selbst ganz überrascht. dass mein eigener Wert bei 3,2 von 5 liegt und deutlich über dem Durchschnitt.
Genuß der einfachen Dinge
In den letzten drei Monaten hatte ich die Zeit genutzt, um mehr auf die Dinge zu achten, die mich glücklich machen. Gymnastik im Licht der Morgensonne, ein Spaziergang rund um den See, ein Besuch im Café.
Der Hamburger Philosoph Jörg Bernardy hat ein Buch “Über die Kraft der Einfachheit in turbulenten Zeiten” geschrieben: “Ich möchte, dass mein Bedürfnis nach Zufriedenheit und Genuss durch diese einfachen Dinge ausgefüllt und befriedigt ist.”
Für mich persönlich auch der Kontakt mit fremden Menschen dazu. Am Montagmorgen warteten 10 Menschen vor der Tür des Arztes. Wir haben uns zuerst angelächelt und dann einen humorvollen Dialog gestartet. Auch die Introvertierten lieferten den einen oder anderen Spruch. Mit Witz und Dialog ging die gemeinsame Wartezeit deutlich schneller vorbei.
Drinnen an der Rezeption erzählte ich von der guten Laune vor der Praxistür. “Meinen Sie das ironisch”, fragte die Sprechstundenhilfe. Nein, die wartenden Patienten haben aus der Situation das Beste gemacht.
Das Fazit aus der Studie von Becker und Bernecker: Die kleinen Freuden des Alltags bringen mehr Glück und Zufriedenheit in unser Leben als die tradierte Selbstdisziplin.
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