Welche Geschichten erzählen wir abends bei Freunden? Was bewegt und berührt uns? Diese Fragen stelle ich mir mitunter, wenn ich dem Gespräch der anderen lausche. Aber ich reflektiere auch meinen eigenen Geschichten, die ich über mich erzähle: Wie gestalte ich die Storyline meines Lebens?
Welche Geschichte erzähle ich mir überhaupt?
Die Grand Dame des Storytellings wird am Montag 70 Jahre alt: Doris Dörrie. Ich erinnere mich gut an ihren ersten großen Kino-Erfolg 1985: “Männer” lockte fünf Millionen Menschen ins Kino – ich war einer davon.
Dörrie schreibt, filmt und unterrichtet kreatives Schreiben. In der aktuellen Ausgabe “Die Zeit” stellt sie eine sehr gute Frage: “Welche Geschichte erzähle ich mir (selbst) überhaupt. Und ist sie wahr?”
Es geht um die Storyline meines eigenen Lebens. Seit 10 Wochen beschäftige ich mich jeden Morgen mit dieser Frage und gehe kritisch durch alle Epochen meines Lebens. Gestern habe ich mich mit dem Jahr 1993 beschäftigt, durch alte Fotoalben geblättert, Notizen von damals gelesen.
Halte ich an einer Geschichte fest, weil sie nützlich ist?
1993 war ich für einige Monate beruflich in den USA. Ich habe als junger Journalist bei zwei Fernsehsendern hospitiert. Besonders spannend fand ich die Tage in Washington DC. Im Januar 1993 wurde Bill Clinton als Präsident vereidigt.
Im September stand ich vor dem Weißen Haus. Dort habe ich TV-Korrespondenten bei ihrer täglichen Arbeit beobachtet. Welche Themen bewegen das Land? Wie agieren die Medien und wo setzen sie ihren Fokus?
Vielleicht klingt das für Sie kurios: Aber in unserer Art, wie wir im privaten Bereich die eigenen Geschichten erzählen, ähneln wir dem Storytelling der Journalisten. Auch wir lassen etliche Dinge weg, wenn wir Freunden aus unserem Alltag berichten. Betonen vielleicht nebensächliche Details, weil sie uns in einem besseren Licht erscheinen lassen.
Meine eigenen Ambivalenzen
Doch meine Geschichten, die ich mir selbst und anderen erzähle, sind ein wichtiger Teil meiner Identität. “Wir erklären uns ständig unser eigenes Verhalten”, berichtet Doris Dörrie “Und dabei kommen wir an Punkte, die sich nicht ganz erklären lassen. Das macht uns zu Menschen.”
Momentan schreibe ich meinen 6. Roman und entwickle dafür fiktive Figuren, die widersprüchlich sind. Diese Ambivalenz machen eine Geschichte für den Leser erst interessant, weil wir Menschen alle widersprüchlich sind.
Natürlich beobachte ich auch bei mir ambivalentes Verhalten: Ich bin sehr gerne mit Menschen zusammen, aber ich habe auch eine introvertierte Seite. Wenn mir der Trubel zu viel wird, ziehe ich mich in die Stille zurück.
Ich liebe das Risiko: Probiere gerne neue Wege aus, bin neugierig auf fremde Menschen. Doch wenn mein Energielevel nachlässt, schätze ich langjährige Freunde und vertraute Orte.
Das Gefühl der Schwäche
Zu meinen Lieblingsfilmen von Doris Dörrie zählt “Kirschblüten-Hanami” mit Hannelore Elsner und Elmar Wepper. Es geht um verlorene Träume und ungelebtes Leben. Das Zuspät-sein im Leben und die verpassten Chancen. Ein Gefühl, das sicher jeder von uns kennt.
“Jeder Mensch hat Schatten”, sagt eine Japanerin im Film. Es klingt wie eine Offenbarung. Dörrie thematisiert die verzerrten Wahrheiten über unser eigenes Leben: Die gefärbten Geschichten, die wir uns selbst erzählen und gar nicht merken, wie weit weg sie uns von unserer wahren Identität, unserem Wesenskern führen.
Häufig habe das mit einem Gefühl der eigenen Schwäche zu tun, so die Filmemacherin. Wenn wir stärker scheinen wollen und unsere Geschichten entsprechend ändern. Aber wäre es nicht viel ehrlicher, wenn wir die Schwäche zugeben, sie vielleicht sogar feiern. Statt den anderen ein Leben der scheinbaren Stärke vorzugaukeln?
“Staunen ist die beste Technik, um Trübsinn zu vermeiden”, erklärt Dörrie. Neugierig zu bleiben – setze ich hinzu. Auf die Storyline meines eigenen Lebens und auf die Geschichten, die noch kommen.
Happy Birthday, liebe Doris Dörrie.