Leben in unsicheren Zeiten ist herausfordernd. Wir sehnen uns nach Sicherheit. Doch dann, beim Einkaufen im Supermarkt, erleben wir genau das Gegenteil. Scheinbare Kleinigkeiten führen zu verbalen Explosionen. „Das steht mir aber zu“ knallt die Kundin dem Kassierer an den Kopf, als dieser sagt: „Tut mir leid. Treuepunkte sind aus.“ Dazu ein Gastbeitrag von Heidi Prochaska. Die langjährige Personenschützerin gibt praktische Tipps zur Deeskalation.

Deeskalation und Sicherheit an der Kasse.

Das Leben stellt uns auf die Probe

Unser Leben ist seit Monaten eingeschränkt. Wir wünschen uns Sicherheit, wissen wir doch kaum, wie es in der nächsten Woche weitergeht. Unsicherheit macht sich breit und besetzt unser Denken. Manchmal macht es kribbelig, dann wieder lethargisch. Unsere Sehnsucht und unser Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität und Vorhersagbarkeit sind unbefriedigt und das berührt uns zutiefst. Mich auch. Aber in jeder Unruhe liegen auch verborgene Chancen. 

Die Vorstellung, dass uns das Leben immer mal wieder auf die Probe stellt und überprüft, ob wir bereit sind Veränderungen und herausfordernde Situationen anzunehmen, gibt mir Zuversicht.  Unsicherheit als Lern-Chance. Ja, das klingt gut. Gerade auch im täglichen Miteinander. Wie schnell geraten wir ins Wanken, wenn Menschen nicht so reagieren, wie wir uns das vorstellen. Sind wir jedoch innerlich stabil, dann können wir mit negativen Bemerkungen oder abschätzigen Blicken besser umgehen. Warum ein Problem daraus machen, wenn es nur darum geht, eine Abfolge von gehörten Tönen nicht persönlich zu nehmen. Manchmal gelingt uns so etwas intuitiv. Eine Situation vor vielen Jahren werde ich wohl nie vergessen. 

Ein Auto geküsst

Ich war spät dran, aber gut drauf und hatte den Kopf voller Ideen. Ich sperrte die Bürotür ab, sprang die Treppen hinunter in mein Auto, legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Rumms! Verdammt. Dieses Geräusch hörte sich nicht gut an. Vorsichtig drehte ich mich um und sah einen wunderschönen, neuwertigen, schwarzen Mercedes, der an meiner Stoßstange klebte. „Mist“, musste das ausgerechnet jetzt passieren? 

Ich stieg aus. Mein alter Golf hatte eine kleine Beule, die vom Mercedes war zwar noch kleiner, aber unübersehbar. Ich überlegte hin und her. Was sollte ich machen? Ich musste zu einem Vortrag über Deeskalation und Sicherheit. 50 Teilnehmer warteten auf mich. Natürlich war es nicht ganz korrekt, aber besondere Umstände erfordern kreative Lösungen. Schnell nahm ich einen Zettel und schrieb: „Sorry, ich habe Ihr Auto geküsst“. Darunter mein Name, die Anschrift und die Telefonnummer. Kurzerhand klemmte ich den Zettel hinter den Scheibenwischer und raste los zu meinem Termin.

Am nächsten Tag – nichts, kein Anruf und kein Unbekannter vor meiner Tür. Am übernächsten auch nichts. Am dritten Tag läutete mein Telefon. „Ich bin die Person, dessen Auto sie geküsst haben“, formulierte druckvoll eine unbekannte, dunkle Männerstimme.  Ich spürte sofort, dass er meinen Zettel  nicht witzig fand. „Aha“, sagte ich leichthin, „auf Sie habe ich schon gewartet.“ „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“, fragte er in einem strengen Ton. „Nein, aber Sie werden es mir sicherlich gleich verraten“. Ich hielt den Atem an. „Ich bin der Polizeipräsident von Wuppertal.“ Und dann ging‘s los.

Es hagelte Vorwürfe und Drohungen. Was ich mir einbildete. Und ob ich nicht einen Funken Verstand in meinem Kopf hätte. Ich hätte eine Straftat begangen. Ich sagte, ohne darüber nachzudenken: „Stimmt“. „Das wird Konsequenzen haben und mich teuer zu stehen kommen“. „Entschuldigung, Sie haben natürlich recht“, erwiderte ich schnell, die Millisekunde zwischen den verbalen Anschuldigungen nutzend. „Ich werde Sie anzeigen und das wird teuer, sehr teuer. Dieser Firmenwagen ist neu. Sie, Sie….“. Und dann legte er abrupt auf. 

Ich war wie vom Donner gerührt. Was für eine Lektion – wenn ich es freundlich ausdrücken wollte. 

Ich wartete ab. Was glauben Sie, ist danach passiert? Habe ich eine Anzeige bekommen? Nein. Ich habe noch nicht einmal den Schaden bezahlen müssen. 

Ums Verrecken recht

Intuitiv habe ich Druck aus der Situation genommen. Sicherheit gegeben, statt Öl ins Feuer zu gießen. Ich habe ihm genau das gegeben, was er haben wollte. Recht. Recht-haben-wollen ist noch mal deutlich stärker als unser Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität und Vorhersagbarkeit. Abgekürzt mit den Anfangsbuchstaben SSV, wie Sommerschlussverkauf. Um Recht zu bekommen sind Menschen bereit, einiges aufs Spiel zu setzen. Freundschaften, Ehen, Arbeitsplätze, die eigene Gesundheit und mehr.

Die Themen Sicherheit und Deeskalation begannen mich immer mehr zu interessieren und zu faszinieren. Ich absolvierte eine Ausbildung zur Sicherheitsfachkraft und arbeitete acht Jahre lang als Personenschützerin für exponierte Familien und einen Konzernvorstand. Jetzt ging es um den Schutz für andere. Ich lernte Sicherheit in den unterschiedlichsten Ausprägungen kennen. 

Eine Erkenntnis blieb jedoch gleich: Sicherheit beginnt immer bei mir selber. Die eigene innere (Selbst-)Sicherheit ist die Grundlage. Je stabiler und gelassener ich bin, desto mehr Sicherheit kann ich geben und ausstrahlen. 

Auf den Punkt gebracht

Daher nun 9 Überzeugungen für mehr Sicherheit und entspannte Gespräche. Sie haben mein Leben bereichert und besser gemacht:

  1. Freundlichkeit schlägt Unhöflichkeit und gibt Sicherheit 1:0
  2. Echtes Interesse ist für den anderen eine Wohltat und bleibt in bester Erinnerung
  3. Dankbarkeit – je höher die Erwartung, desto niedriger die Ausbeute
  4. Die eigene innere Haltung ist die größte Stellschraube für einen sicheren und erfolgreichen Tag
  5. Für schwächende, in Stein gemeißelte Glaubenssätze, gibt es den Hammer. Ran an die Arbeit.
  6. Mit Strategie immer einen Schritt voraus: Aufwand, der sich lohnt.
  7. Die Fähigkeit zu deeskalieren setzt voraus, dass wir nicht werten und auf Distanz bleiben.
  8. Wer deeskaliert ist ein Gewinner, denn wir können etwas, wozu der andere nicht in der Lage ist.
  9. Zeigen Sie königliche Haltung, indem Sie auch anderen Größe zugestehen.

Zurück zu den beiden Beispielen 

Unbewusst habe ich in der Auto-Story den Königsweg der Deeskalation gewählt. Zustimmen und recht-geben ist die wirksamste Methode, Druck aus angespannten Gesprächen zu nehmen. Sie funktioniert, wenn wir verinnerlicht haben, dass Recht geben nicht automatisch heißt, dass wir selber Unrecht haben. Wir können Recht haben und der andere auch. Denn Recht-haben ist nicht limitiert. 

Und wie könnte die Kassiererin antworten? Auch in diesem Fall könnte Zustimmung funktionieren, in Verbindung mit nachvollziehbarem Verständnis. Sie könnte zum Beispiel sagt: „Stimmt. Da haben Sie recht“. Kurze Pause. „Ich würde mich an Ihrer Stelle auch ärgern“.

Für Leseratten und Interessierte

Möchten Sie tiefer eintauchen in dieses Thema? Gerne. In meinem Buch „Sicherheit und Deeskalation – Was das Leben besser macht“ habe ich zwanzig Jahre Erfahrung konkret und beispielhaft zusammengefasst. Sie befürchten, es sei kein leichtes Buch? Auf diese Frage würde ich zunächst mit einem Lächeln antworten und dann hinzufügen: „Ich bin mir sicher, 404 Gramm können Sie locker stemmen.“ Auch eine kleine Prise Humor kann Druck herausnehmen.