Die Ferienzeit nähert sich dem Ende. Wie gelingt es im Alltag zuhause die Ablenkungen zu vermeiden und neue Lebensfreude zu gewinnen?
Ablenkung ist wie Junkfood
Ich liebe das aufregende Ploppen von Popcorn: Wenn aus einer Handvoll Maiskörner plötzlich ein randvoller Topf mit klebrig-süßem Kinoschmaus wird. Wenn ich morgens nach dem Frühstück mein Handy in die Hand nehme, geht es mir ähnlich. Auf dem Bildschirm ploppen zahlreiche Nachrichten gleichzeitig auf: WhatsApp, heute-Updates, Instagram-Fotos und Facebook-Posts.
Hinzu kommen noch Mails, Sprachnachrichten und Live-Anrufe. Der Topf ist voll und mein Magen an dem Zuviel schnell verdorben. Doch wie bei Kindern wird uns erst zu spät bewusst, dass wir uns übernommen haben mit dem ganzen Social-Media-Junkfood.
Mit meinem väterlichen Freund Hans spreche ich manchmal über eine zweite Ebene, die mit der Ablenkung einhergeht. Psychologen nennen sie Prokrastination. Damit ist die Verschieberitis gemeint: Wichtige Aufgaben werden aufgeschoben, Termine verschoben – angeblich aus Zeitgründen. Doch häufig wird damit auch die fehlende Lust beschrieben, wirklich wichtige Dinge zu erledigen.
Digitale Taubheit
Das digitale Junkfood, das über unser Smartphone jederzeit verfügbar ist, verführt wunderbar dazu, das Wesentliche links liegen zu lassen. Stattdessen minutenlang durch den endlosen Bilderstrom der sozialen Netzwerke zu scrollen. Ich kenne dieses Phänomen sehr gut. Es lockt mich dann, wenn ich lästige Aufgaben zu erledigen habe. Plötzlich ist eine halbe Stunde vorbei und das zentrale Problem noch nicht gelöst.
Nun ist ein bisschen Aufschieberitis meist nicht schädlich. Doch in der Summe addiert sich die tägliche Ablenkung auf Tausende von Impulsen. Ich spüre dann häufig eine innere Leere, eine digitale Taubheit und überreizte Augen. Meine Frau Ilona verwendet dann gern ein englisches Sprichwort: Energy flows where attention goes. Wohin unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist, fließt auch unsere Energie.
Im Sommer war ich zu einem Workshop in Dortmund. Ein begeisterter Fotograf hat eine alte Zechenhalle mit großen Gasturbinen gemietet. In diesem Setting hatte ich die Gelegenheit, Modefotos im Stil von Jil Sander zu fotografieren. Mit drei Fotomodellen konnte ich meine Bildideen umsetzen. Das spannende an dieser Übung: Ich hatte nur drei Minuten Zeit, um mein Foto zu machen. Ein zweiter Teilnehmer stoppte die Zeit.
Mich neu fokussieren
Am Samstagmorgen fand ich diese Beschränkung nervig. Unter Zeitdruck zu arbeiten. Doch dann habe ich gemerkt, wie herrlich befreiend es sein kann. 180 Sekunden sind lang, wenn man fokussiert arbeitet, aber extrem kurz, wenn man nicht weiß, was man wirklich realisieren will.
Nach den drei Minuten hatte jeder 20 Minuten Pause: Ich habe sie genutzt, um meine Fotos zu analysieren: Stimmen das Licht, der Ausdruck, die Schärfe? Ist es mir gelungen, meine Bildidee so umzusetzen, dass diese Aufnahme eine Geschichte erzählt? Eine Emotion im Betrachter auslöst? Gleichzeitig gab es in den 20 Minuten Wartezeit auch sehr viel Ablenkung: Tausende von Details in der Industriehalle, Menschen zum Reden, Kaffee und Süßigkeiten. Ich musste mich immer wieder fokussieren.
Mir überlegen, was für ein Foto möchte ich als Nächstes machen, wenn ich wieder drei Minuten Zeit habe? Zu Hause habe ich gemerkt, was für ein außergewöhnlicher Trainingstag das war. Anspannung und Entspannung. Höchste Aufmerksamkeit und dann wieder Regeneration. Das alles in einem ständigen Wechsel. In einer der Pause sprach mich der Organisator an: Du wirkst so nachdenklich! Geht es dir gut? Ich schaute ihn glücklich an: Ja, ich bin fokussiert.
Wenn Lebensfreude zurückkehrt
Damit bin ich am zentralen Punkt, der nach meiner Beobachtung zwischen Glück und Unglück entscheidet: die Erreichbarkeit. Die Erfindung der Smartphones brachte Segen und Fluch zugleich. Auf der einen Seite kann ich eine Fülle von Kommunikationsformen nutzen. Bilder aufnehmen und sofort verschicken. Videos und Sprachnachrichten aufnehmen und teilen. Gleichzeitig bin ich auch auf einer Vielzahl von Kanälen erreichbar.
Meine Lebenszeit wird als kostbarste Ressource von anderen bestimmt. Es sei denn, ich entscheide mich aktiv dafür, nicht erreichbar zu sein. Ich ignoriere die Meldungen, die mitunter im Minutentakt aufploppen. Vor Jahren gab es einen populären Ratgeber: Das Glück der Unerreichbarkeit. Ich finde, dieser Titel ist heute aktueller denn je.
Wenn ich will, dass meine Lebensfreude zurückkehrt, brauche ich digitale Erholung. Digital Detox nennen das manche Touristenorte und bieten den Gästen an, dass sie bei der Anreise ihr Handy in der Kurverwaltung abgeben können. Vermutlich ist das für 99 Prozent der Urlauber eine Horrorvorstellung: Ich muss doch immer erreichbar sein! Wirklich? Wenn ich am Meer bin, lasse ich mein Handy bewusst im Zimmer. Warum? Weil ich gemerkt habe, dass ich am Strand immer wieder auf den Bildschirm schaue, statt die Möwen und die Wellen zu beobachten.
So sehr ist der Blick auf die Glasscheibe zur Routine geworden, dass ich aus Langeweile gar nicht merkte, wie süchtig ich nach neuen Ablenkungen bin. Im Sommer haben meine Frau und ich über den Bericht eines Arztes diskutiert: Wann merke ich, dass ich mich erhole? Seine Antwort: Wenn ich mich richtig langweile! Nach drei Tagen haben wir beide glücklich erzählt, wie schön langweilig die Zeit im Strandkorb war. Weil wir nicht abgelenkt, nicht erreichbar waren.
Was hindert mich daran, meine Berufung zu leben?
In den letzten sieben Jahren haben wir etliche Menschen in ihrer Auszeit begleitet. Das Schäferhaus im Gutshof ist dafür ein wunderbarer Ort. Obwohl wir im Herzen Deutschlands liegen, ist er für Kunden der Telekom ein weißer Fleck: kein Netz. Entfernt von den großen Flughäfen gibt es keinen Fluglärm, nachts dominiert ein herrlicher Sternenhimmel den Horizont. Beim Lagerfeuer oder einem Glas Wein auf der Terrasse sprechen wir über die Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht.
Meist ist es nicht das eigene Haus oder das Bankkonto. Sondern die Zeit, die ich mit Familie und Freunden empfinde. Ein wichtiger Punkt ist auch der Beruf. Viele sind glücklich, wenn sie nicht nur einen Job haben, der ihr Einkommen sichert, sondern auch ihre Berufung leben können. Das ist der Sinn, den ich in meiner Tätigkeit empfinde. Stiftet mein Tun einen Mehrwert? Bereichert es andere? Erfüllt es mich mit innerer Zufriedenheit?
Vom 4. bis 6. Oktober bieten wir wieder ein Gutshof-Retreat an: eine Auszeit – allein oder in einer kleinen Gruppe – um die eigenen Lebensfragen zu klären.
Weitere Infos unter: www.gutshof-retreat.de