Manchmal kann es ganz schnell gehen: Ein unbedachter Moment und plötzlich spüren wir, dass unser Leben nur an einem seidenen Faden hängt. In diesem Moment wird schmerzlich bewußt, wie wichtig die Begegnung mit anderen Menschen ist. So wie es auch Martin Buber in seinem berühmten Zitat ausdrückt.

Begegnung
Foto: shutterstock

Dem Tod von der Schippe gesprungen

Schon von weitem sehe ich den weißen Kühllaster, der in einer Seitenstraße darauf wartet, auf die Bundesstraße zu fahren. Ich bin in Gedanken bei meinem nächsten Termin. Plötzlich fährt der weiße Laster auf die Bundesstraße. Ich bin nur noch wenige Meter von ihm entfernt und versuche auszuweichen. Doch auf der Gegenspur kommt mir in diesem Moment ein blauer Kombi entgegen. Ich bremse leicht ab, um dem Aufprall auszuweichen. Dann versuche ich mein Auto in einem Schlenker am LKW vorbeizuziehen.

Wie durch ein Wunder scheppert es nicht. Was um alles in der Welt war das gewesen? Ich fühle, wie das Adrenalin meinen Körper flutet. Im Rückspiegel sehe ich, wie der LKW ganz auf die Bundesstraße einfährt. Dann spüre ich, wie mein ganzer Körper anfängt zu zittern. Mir wird bewusst, dass ich gerade haarscharf dem Tod entronnen bin. Eingequetscht unter dem Führerhaus des LKWs wären meine Überlebenschance nur sehr gering.

Auf dem Weg nach Hause denke über die Schar von Engeln nach, die mich heute beschützt haben. Ich bin zutiefst dankbar über Gottes Bewahrung. Bestimmt kennt jeder von uns Situationen, in denen sein Leben von einer Sekunde auf die andere enden konnte. Ich habe dies in meinem Leben bereits mehrfach erlebt: Echte oder Beinahe-Unfälle. Medizinische Diagnosen, die sich später doch nicht als lebensbedrohlich herausstellten. Jede Einzelne ein Denkzettel, weil sich im Angesicht des möglichen Todes sehr schnell die Prioritäten enden.

Was sind die existenziellen Fragen?

Momentan lese ich ein Buch des jüdischen Psychotherapeuten Irvin D. Yalom. „Ich musste dem Tod Auge in Auge begegnen, bevor ich leben konnte. Ich musste sterben, um zu leben.“ So zitiert der die Erfahrung seiner Patientin. Yalom reduziert unsere Existenz auf vier zentrale Lebensthemen: Tod, Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit. Seine These: „Die Begegnung mit jeder dieser Tatsachen des Lebens stellt den Inhalt des existenziellen Konflikts dar.“

Ich finde es paradox, dass wir im Fernsehen jede Woche zahlreiche Morde im Krimi ansehen und uns davon „unterhalten“ lassen. Gleichzeitig verdrängen wir so gut es geht das eigene Ende. Das ist ein existenzieller Konflikt. In meinem eigenen Leben begleitet mich der Tod seit dem 11. Lebensjahr, als meine Mutter starb. Diese frühe Erfahrung hat mich zutiefst geprägt und ich lerne mit jedem Abschied von einem geliebten Menschen für mein eigenes Ende dazu.

Der zweite Konflikt ist mit Freiheit verbunden. Jeder von uns sehnt sich nach Freiheit. Doch für viele geht dieses positive Gefühl im Alltag verloren. Wir fühlen uns gefangen im Hamsterrad, treten auf der Stelle, bewegen uns im Kreis. Gleichzeitig können wir uns jeden Tag neu entscheiden, das Leben zu ändern, um die Freiheit wieder zu gewinnen. Es ist die Summe der kleinen und großen Entscheidungen, die wir treffen – im Beruf und im privaten Leben.

So wie mein Freund Arne. Er ist Berufsmusiker, spielt in mehreren Bands das Schlagzeug. Seine Frau arbeitet in der Medizinbranche, gemeinsam leiten sie ein Unternehmen mit 50 Mitarbeitern und haben zwei erwachsene Kinder. Das ganze Setting klingt nach Widerspruch. Musiker und Chef, sehr viel Verantwortung. Doch Arne hat den Konflikt ganz pragmatisch gelöst: Jeden Werktag sitzt er morgens eine Stunde am Schlagzeug. Erst danach geht er in die Firma, am Wochenende ist er auf Tour. Diese Freiheit nimmt er sich und ist damit glücklich: Als Ehemann, Vater und als Chef.

Was gibt meinem Leben Sinn?

Die dritte existenzielle Frage dreht sich um Isolation. Während Corona haben wir sie unterschiedlichen Varianten kennengelernt. Getrennt von Arbeitskollegen im Homeoffice, isoliert von der Familie an Weihnachten, abgegrenzt von Freunden. Selbst bei Kindern hat die Isolation nachhaltige Schäden hinterlassen, so der bekannte Gehirnforscher Gerald Hüther. Etliche Menschen haben in der Pandemie auch erlebt, wie oberflächlich manche Beziehungen sind.

„Der banale Smalltalk fehlt mir gar nicht“, erzählte mir die Chefin eines kleinen Familienbetriebes. Gleichzeitig tragen wir eine tiefe Sehnsucht in uns, nach echten Begegnungen auf Augenhöhe. Wir wollen Teil einer größeren Gemeinschaft sein. Doch nehmen wir uns die Zeit dafür? Ich persönlich beobachte an mir, dass wenn ich viel um die Ohren habe, zuerst auf die Zeit mit Freunden verzichte. Dies ist zutiefst paradox. Ich isoliere mich damit selbst, statt aktiv mit vertrauten Menschen verbunden zu sein.

Die vierte Frage, die uns existenziell beschäftigt, ist Sinnlosigkeit. Wir wollen keinen Job in einem Unternehmen, das seine Mitarbeiter nicht wertschätzt. Junge Berufsanfänger wählen ihren Arbeitgeber danach aus, wie nachhaltig, wie sinnstiftend das Unternehmen agiert. Damit sind wir bei der Schlüsselfrage: Warum leben wir? Was gibt meinem Leben Sinn?

Meine inneren Antreiber

Für mich persönlich ist es der Kontakt mit jungen Menschen. Da ich selbst keine Kinder habe, stelle ich meine Zeit ehrenamtlich als Mentor jungen Leuten zur Verfügung. Für fünf Personen habe ich neben meinem Beruf noch Kapazität. Sie können mich anrufen, um Rat bitten, mich besuchen. Je nach Thema nehme ich mir eine Stunde oder einen halben Tag Zeit. Diese Mentoring-Gespräche erfüllen mich zutiefst, weil ich immer sehr viel auch von den jungen Menschen lerne. Ihnen zu helfen, gibt auch mir Sinn. Doch die Initiative liegt immer bei den Mentees. Sie müssen aktiv sein und die Unterstützung abrufen. Damit trainieren sie Mündigkeit.

Wenn ich mich mit den großen Fragen meines Lebens auseinandersetzte, komme ich auch meinen inneren Antreibern auf die Spur. Handle ich aus Angst vor Isolation? Oder weil ich Sorge habe meine Freiheit zu verlieren? Damit bin ich bei den Kompromissen, die jeder von uns eingeht, um seinen Ängsten auszuweichen.

Bei mir hat es längere Zeit gedauert, bis ich kapiert habe, dass ich beruflich und privat immer wieder faule Kompromisse eingehe. Warum? Weil ich Angst vor Konflikten habe. Ein Stück weit liegt dies an der autoritären Erziehung meines Vaters, der neben seiner Meinung keine andere geduldet hat. Doch als erwachsener Mann wurde mir deutlich, dass dieser innere Antreiber mich in Sackgassen führt. Oder in Situationen, zu denen ich besser frühzeitig „Nein“ sagen sollte.

Begegnung: Selbst für mich sorgen

Damit diese Freiheit im Alltag gelingt, brauche ich regelmäßige Auszeiten. Alle zwei Monate habe ich einen festen Termin mit mir. Ganz allein in der Stille. Ich nehme mir einen halben Tag dafür und suche mir einen Ort, an dem ich ungestört bin. Früher bin ich manchmal in ein Hotel gefahren, heute nutze ich unser Gästezimmer für einen Perspektivwechsel. Morgens um 9 Uhr starte ich mit einem Rückblick auf die letzten zwei Monate: Wofür bin ich dankbar, was ist gut gelaufen?

Ich blättere durch mein Tagebuch, durch meinen Kalender und notiere, die Dinge, die mir positiv auffallen. Diese Zeit im inneren Dialog mit mir selbst und mit Gott richtet meine Kompassnadel neu aus. Dann konzentriere ich mich auf die Beziehungen, die Menschen, die mir wirklich wichtig sind. Was habe ich mit ihnen erlebt? Wie oft habe ich mir Zeit für sie genommen?

Ich danke dem Schöpfer für jeden Einzelnen, der mir einfällt. In der letzten Stunde fokussiere ich mich auf die Zukunft: Was will ich in den nächsten Monaten ändern? Wofür mir Zeit nehmen? In welche Menschen meine Energie investieren? Nach einem halben Tag in der Stille hat sich mein Leben neu sortiert, die Prioritäten sind klar und gehe erfrischt zurück in den Alltag.

Zurück zu meinem Erlebnis mit dem weißen LKW. Ein Bekannter, dem ich davon erzähle, stellt mir die entscheidende Frage: Was würde ich am meisten vermissen, wenn mir das Schlimmste passiert wäre. Wie aus der Pistole antworte ich: Die Beziehung zu liebgewordenen Menschen. Damit habe ich mir selbst die Antwort gegeben, worauf ich mich in den kommenden Monaten und Jahren fokussieren werde. Oder wie es der Philosoph Martin Buber sagte: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Mit mir selbst und meinen Ängsten – aber auch mit anderen Menschen.