Zu Beginn des neuen Jahres möchte ich Ihnen einige gesellschaftliche Trends 2022 vorstellen. Den Auftakt macht heute der “Biografismus” – die Sehnsucht nach authentischen Geschichten aus dem wahren Leben.

Der neue Biografismus

Zugegeben, als Geschichtenerzähler freue ich mich sehr über diesen neuen Trend, der in den unterschiedlichen Medien derzeit zu beobachten ist. So wie heute in “Die Zeit”: Als Titelgeschichte präsentiert sie Heinrich Schliemann und seine Wandlung “vom weltberühmten Archäologen zum Dieb”.

In der Literatur haben Biografien schon lange eine große Bedeutung. So war die Biografie von Michelle Obama ein weltweiter Erfolg. Selbst von Angela Merkel wurde kürzlich bekannt, dass sie selbst ihre Regierungsgeschichten erzähle wolle.

Neu sind jedoch die zunehmende Anzahl von Romane, die zum “Biografismus” neigen. Zu dieser Stilrichtung zählt das neue Buch des Schauspielers Edgar Selge. Er hat mit 73 Jahren seinen Debütroman geschrieben: “Hast du uns endlich gefunden”. Darin erzählt er von seiner Kindheit, aber auch von den Angriffen seines Vaters.

In der Tageszeitung “HNA” stellt der Literaturwissenschaftler Simon Sahner die These auf, dass der neue Hunger nach dem wahren Leben durch die sozialen Netzwerke befeuert wird: Wir seien “daran gewöhnt von uns zu erzählen und werden von anderen mit Persönlichem konfrontiert.”

Autobiografisches Schreiben

Die These bestätigt auch der bekannte Schriftsteller Moritz Rinke: “Es geht da ein bisschen zu wie bei Instagram, die ganze ungebrochene Ich-Ich-Form.” Doch dieser Trend ist nicht nur im Buchhandel zu beobachten, sondern auch bei Streamingdiensten. Rinke: “Der Hunger nach Wirklichkeit wird in der Literatur, aber auch bei Netflix immer deutlicher.”

Ich persönlich frage mich, ob dieser Appetit auf “wahre Geschichten” etwas mit der Pandemie zu tun hat. Ein möglicher Grund könnte für mich die Suche nach Identität und persönlichen Wurzeln sein. Was gibt mir Halt in unsicheren Zeiten? Die Erlebnisse und Erfahrungen von anderen Menschen!

Mit großem Medien-Hype wurde zum Jahresende eine neue Sisi-Verfilmung von RTL ausgestrahlt. Für eingeschworene Romy-Schneider-Fans war dies sicher der Bruch einer langjährigen Tradition. Doch der Sender betont auch hier sechzig Jahre danach einen “neuen Blick” auf die Kaiserin zu werfen. Quasi die wahre Geschichte zu erzählen – mit weniger Kitsch und deshalb auch nur noch einem “s” im Namen.

Auch dieser Blog passt zum Biografismus

Kurz vor Weihnachten wurde ich bei meiner Krimi-Lesung um eine Widmung gebeten. Der Vater berichtete, sein Sohn wolle ein Autogram vom “ersten Podcaster in Deutschland”. Das solle ich Bitteschön auch so ins Buch schreiben. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Woher wusste der Sprössling von meinem frühen Start im Jahre 2005?

Damals hatte ich zahlreiche Promis in meiner Sendung, die ihre Geschichte erzählten: Von Anne Will bis Christian Wulff habe ich ganz unterschiedliche Persönlichkeiten interviewt. Beim Start meiner ersten Podcasts haben mich zwei Pioniere ermutigt: Annik Rubens mit “Schlaflos in München” und Alex Wunschel mit “Blick über den Tellerrand”.

Gerne würde ich diesen Faden wieder aufgreifen und 2022 ein Erzähl-Café starten. Ich glaube, in jeder Stadt, in jedem Dorf gibt es interessante Geschichten, die erzählt und und gehört werden sollten. Geschichten, die davon berichten, wie Menschen in schwierigen Zeiten ihren Mut bewahrt haben. Wie sie Resilienz entwickelt haben und in der Krise widerstandsfähig geworden sind.

In diesem Sinne freue ich mich auf unseren kreativen Dialog und wünsche Ihnen ein gesegnetes neues Jahr.

Ihr Rainer Wälde