Wer hätte das gedacht: Deutschlands bekanntester Bürgermeister hat es wieder mal geschafft. Die “taz” widmet ihm in dieser Woche gar eine Titelstory. Der bekannte Tatort-Kommissar Hans Jochen Wagner schickt seine Glückwünsche via Instagram an den “Querulant der Herzen”. Ich frage mich: Was macht die Personenmarke Boris Palmer so erfolgreich?

Boris Palmer

Palmer ist eine Marke

Tübingen ist nicht groß und wichtig genug, um es abends in die Hauptnachrichten von ARD und ZDF zu schaffen. Doch wenn es um Boris Palmer, den grünen Bürgermeister geht, ist das anders. So meldet auch das Heute-Journal seinen Wahlsieg, während die Kandidaten anderer Kreisstädte unerwähnt bleiben.

Boris Palmer spielt die große Orgel der Kommunikation mit solch einer Bravour, dass man in nicht übergehen, nicht übersehen kann. Obwohl viele Parteifreunde ihn am Liebsten “canceln” würden – ausgrenzen, totschweigen. Was man eben mit Querulanten mitunter so macht.

Doch Palmer zieht so geschickt alle Register, dass man ihn auch im Dunkeln noch hören würde. Er ist ein ausgefuchster Medien-Profi, der weiß, welche Orgel-Taste zu drücken ist, um die anwesenden Kirchgänger und auch die Passanten auf der Straße zu erreichen.

Ein strotzendes Ego?

Im Schwäbischen gibt es eine Redensart: Der isch vielleicht ä Marke! Dieser Spruch verknüpft irritiertes Kopfschütteln mit lässiger Bewunderung. Die linke “taz” nimmt spielerisch den Ball auf und stellt den Tübinger OB in eine Reihe mit Brexit-Boris und Bumm-Bumm-Boris.

Zu viel der Ehre müsste man sagen – so wichtig ist der Dorfschultheis dann doch nicht. Zumal ihn in 10 Downing Street vermutlich keiner kennt. Doch die feine Ironie der “taz” spielt auf die Ego-Manie des Oberbürgermeisters gekonnt an.

Tatort Kommissar Wagner bemerkt dazu: “Passt ideal nach Tübingen. Hochburg der Ü60 Grünen im Ländle. Mir hen bei seinem Vadder Helmut, dem Remstal-Rebell aufm Markt seinerzeit no Äpfel kauft.”

Der letzte Rock-’n’-Roller der Grünen

“Joschka Fischer hatte sich einst zum letzten Rock-’n’-Roller der Grünen erklärt”, schreibt die “taz”. “Mit Boris Palmer ist das Rollenfach neu besetzt. Der Querkopf aus Tübingen weiß: Sein Revoluzzertum funktioniert nur im grünen Kontrast.”

Das Problem für die Grünen: Mit dem Wahlsieg von Palmer gab es “maximalen Kollateralschaden für alle drei grünen Parteiebenen”, wie Rezzo Schlauch attestiert. Er bemerkt, dass zur “DNA der Grünen auch das offene Austragen von Kontroversen” gehört.

Doch gerade dieser offene Diskurs scheint während der Pandemie auf ein Nebengleis geraten zu sein. So muss man leider sagen, dass Palmer zum dritten Mal den OB-Sessel gewonnen hat – obwohl seine eigene Partei sich gegen ihn gestellt hat.

Der schwäbische Landwirtschaftsminister Cem Özdemir twittert am Wahlabend: Zusammen mit den Stimmen der grünen Gegenkandidatin hätten 70 Prozent der Tübinger Grün gewählt. So kann man es natürlich auch sehen.

Von Palmer lernen, heißt Kante zeigen

Mich persönlich überrascht die hohe Wahlbeteiligung von 62,6 Prozent. Das ist bei einer Oberbürgermeisterwahl eher selten. Die “taz” bemerkt süffisant: “Das grüne Enfant terrible aus der Partei zu werfen, um sich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen zu müssen, war keine gute Idee. Jetzt muss geredet werden.”

Ich persönlich bewundere den kantigen Stil von Palmer. Er lässt sich keinen Maulkorb vorbinden, benennt Missstände mitunter überdeutlich – auch wenn manche Äußerungen im Nachgang mehr als unglücklich zu werten sind. Doch viele Wähler schätzen diese Geradlinigkeit, vor allem, wenn nicht nur geschwätzt, sondern auch gehandelt wird.

Die Wahl Palmers zeige – so das Schwäbische Tageblatt: “Wer arbeitet und vielleicht auch mal klare Kante zeigt, der bekommt das vom Wähler auch honoriert.” Von daher ist sein Sieg auch eine Mahnung an Führungskräfte: Klares Profil entwickeln, Eigenarten pflegen und bei stürmischer See nicht umkehren, sondern unbedingt auf Kurs bleiben.