Seit Monaten verfolge ich die Diskussionen in der Kulturlandschaft: Was ist politisch korrekt, was muss eliminiert werden? Cancel Culture ist mittlerweile ein gängiges System in der westlichen Welt, das unliebsame Positionen eliminiert. Gleichzeitig wirft es dunkle Schatten an die Wände unserer Demokratie.

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Die Toten von Salzburg

Vorab ein persönlicher Hinweis: Ich bin ein großer Fan von schwarzem Humor. Vor allem in Großbritanien und Österreich gibt es zahlreiche Beispiele für exzellente Komödien, die auch im Kino und Fernsehen für gute Unterhaltung sorgen. Zu den Großmeistern des Genres zählt der Österreicher Billy Wilder, der eine Perlenkette von Klassikern hinterlassen hat.

Vermutlich würde der Großmeister des Genres heute seinen Beruf an den Nagel hängen. Seinen Werken mangelt es an “political correctness”. 2023 würde er wohl schwerlich einen Produzenten oder Sender finden, der das Risiko eingeht, ihn einen Film drehen zu lassen. Oder Wilder hätte die Lust am Filmen verloren.

Zu den Perlen im deutschen Fernseh-Allerlei zählt die Serie “Die Toten von Salzburg”. Eine Kooproduktion, die von ORF und ZDF ausgestrahlt wurde. Hauptfigur ist Major Palfinger, ein Ermittler im Rollstuhl, der im Kloster auf dem Berg lebt. Jeden Morgen muss er mühsam über das holprige Kopfsteinpflaster hinunter in die Stadt. Sein Chef: Ein schwuler Hofrat, der sich mit dem snobbigen Kellner im Kaffeehaus fetzt. Dazu ein grantliger Kommissar aus dem Freistaat Bayern, der grenzüberschreitenden den Össis Steine in den Weg legt.

Das ganze Figurenkabinett ist so fein justiert, die Dialog sitzen, der schwarze Humor perlt wie Champagner im Glas. In der letzten Woche sollte die neue Folge ausgestrahlt werden. Dann wurde das ganze Ensemble zum Opfer der Cancel Culture.

Wenn 100 Kreative in Sippenhaft genommen werden

Bei den Toten von Salzburg sorgt der Hauptdarsteller seit Wochen für Schlagzeilen. Gegen Florian Teichtmeister wurde ein Strafverfahren eröffnet. Ich möchte die medialen Vorwürfe an dieser Stelle nicht wiederholen und – falls sie zutreffen – in keiner Weise beschönigen. Das ist Aufgabe des Landgerichts in Wien. Seit gestern findet dort der Prozess statt. Es muss juristisch den Sachverhalt klären.

Doch Teichtmeister ist medial längst verurteilt. Von allen Aufträgen und Jobs entbunden. Ganz gleich wie der Prozess ausgeht, es wird für ihn schwer werden, in seinem Beruf als Schauspieler jemals wieder Fuß zu fassen.

Neben dem menschlichen und medialen Drama gibt es eine Komponente, die mich persönlich stutzig macht. In der neuesten Folge der Fernsehserie hat man Teichtmeister “rausgeschrieben”: Laut Drehbuch ist der Kommissar in Kur. Doch diese und auch alle vorhandenen Folgen sind aus der ZDF Mediathek verschwunden. Die Filme wurden auf allen Plattformen gesperrt.

An dieser Stelle frage ich mich ernsthaft: Wenn ein Mensch ein Fehler macht, müssen dann auch alle anderen auch in Sippenhaft genommen werden? Neben Teichtmeister haben über 100 Künstler an diesem Werk mitgewirkt. Warum müssen alle anderen Akteure mit ihm büßen?

Bevormundung kontra Mündigkeit

An dieser Stelle komme ich an einen kritischen Punkt der Cancel Culture. Wollen wir alle Kunstwerke aus dem öffentlichen Kulturraum bannen, sobald ein Akteur im öffentlichen Diskurs in Ungnade fällt? Diese Entscheidung hat in der Regel auch gravierende Auswirkungen für die Existenz aller anderen.

Florian Teichtmeister spielt auch in in dem neuen Film “Corsage” mit. Dieser ist aktuell noch zum Kauf erhältlich und war im Gespräch für die diesjährigen Oscar-Verleihungen. Doch im medialen Diskurs scheint auch dieses Werk verbrannt mit gravierenden wirtschaftlichen Folgen für alle Beteiligten.

Ich persönlich halte sehr wenig von einer Bevormundung der Zuschauer. Durch die breite öffentliche Berichterstattung weiß jeder Zuschauer, mit welchen Vorwürfen Teichtmeister vor dem Landgericht konfrontiert wird. Er braucht keine Zensur des ORF oder des ZDF und sollte selbst entscheiden können, ob er einen Film sehen will oder nicht.

Im Übrigen gilt die juristische Unschuldsvermutung: „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

Cancel Culture im Theater

Lassen Sie mich noch ein zweites Beispiel anführen: Das Engagement von russischen Künstlern in deutschen Theatern. Auch hier gibt es großen öffentlichen Druck und wenige Intendanten, die dem entgegenhalten. Eines von vielen Beispielen ist die Diskussion über den Netrebko Streit in Wiesbaden. Darf die Diva bei den Mai-Festspielen auftreten?

Nun kann man mit dem Für und Wider tagelang die Feuilletons und die Leserbriefspalten füllen. Auch hier frage ich mich: Müssen wir wirklich alle russischen Künstler bannen? Oder ist der Zuschauer nicht mündig genug, selbst zu entscheiden, ob er eine Karte für Netrebko kauft oder nicht?

Ich hatte kürzlich eine sehr ausführliche Diskussion mit meinem Freund Hans Beller, der als Psychologe und Filmprofessor den Begriff “Manichäisches Weltbild” einbrachte. Danach versuchen wir Menschen immer wieder unsere komplexe Welt in Licht und Schatten, Gut und Böse einzuteilen.

Hollywood hat in den Anfängen von diesen Stereotypen gelebt: Auf der einen Seite ein dunkel gekleidete Schurke, auf der anderen ein leuchtend reiner Held. Diese Vereinfachung des Manichäismus trägt allerdings infantile Züge. Jeder Mensch trägt “gut und böse” in sich, muss täglich entscheiden, auf welche Seite er sich stellt.

Kulturelle Säuberung hat Tradition

Nun ist die Cancel Culture kein neues Phänomen. Kulturelle Säuberungen gibt es seit vielen Jahrhunderten. Auch die Reformation hat zu einer Säuberung von Kirchen geführt. Im Bildersturm wurden zehntausende von Kunstwerke vernichtet.

Mit großem Schrecken denke ich an die Cancel Culture der Nazis zurück: Entartete Kunst und ihre Macher stand auf dem Index. Künstler wurden verfolgt, Sammler enteignet, Kunstwerke verbrannt.

Auf diesem Hintergrund sehe ich die aktuelle Cancel Culture sehr kritisch. Wer bestimmt, was politisch korrekt ist, was nicht mehr gesendet oder aufgeführt werden darf? In jedem Fall geht es um Menschen und ihr Schicksal, wenn sie mit einem kulturellen Bann belegt werden.

Wir befinden uns derzeit in einer grotesken Situation: Alle wollen lachen und Spaß haben, aber niemand soll verletzt werden. Auf der anderen Seite propagieren die Leitmedien und große Teile der Gesellschaft: Jeder Mensch soll nach seiner Facon glücklich werden – gleichzeitig niemand dem anderen auf die Füße treten.

Doch das ist eine Illusion. Kunst und Gesellschaft leben vom Diskurs. Humor braucht Übertreibung, um gesellschaftliche Entwicklungen sichtbar zu machen.

Cancel Culture stigmatisiert

Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei zeitgenössische Künstler zitieren. Zuerst Bully Herbig. In einem Interview der NDR Talkshow berichtete er, dass schwarze Komödien wie “Der Schuh des Manitu” heute nicht mehr möglich wären. Einer der erfolgreichsten deutschen Filme mit knapp 12 Mio. Kinobesuchern (2001) würde durch Political Correctness verhindert.

Der Kabarettist Dieter Nuhr beobachtet eine “Art Gleichschaltung, die kaum noch zu durchbrechen ist: Es werden Meinungskorridore festgelegt, deren Verlassen sofortigen Ausschluss bedeutet.” In dem gerade erst erschienen Buch “Generation Gleichschritt” schreibt er:

“Einzelpersonen werden nach Belieben und oft auch beliebig stigmatisiert. Ich sehe unsere Demokratie, deren Grundlage die nüchterne Diskussion unterschiedlicher Interessen und das Herbeiführen von Kompromissen ist, insofern als massiv gefährdet an.”

Die Frage, die ich mit Freunden diskutiere: Auf welchem Meinungskorridor sind wir unterwegs? Schauen wir auch links und rechts hinter die Türen? Oder folgen wir ausschließlich dem medialen Mainstream?

Auf diesem Grund habe ich mich entschieden, immer nochmals genauer hinzusehen, wenn ein Künstler öffentlich an den medialen Pranger gestellt wird. Wir brauchen die kulturelle Vielfalt und mitunter auch schwarzen Humor, um unsere Demokratie kreativ mitzugestalten.