„Reputation ist wie feines Porzellan: Einmal zerbrochen, ist es nur schwer wieder zu reparieren.“ Dieses Zitat von Abraham Lincoln beschreibt sehr anschaulich das Dilemma von Christian Wulff. Seit seinem Freispruch durch das Landgericht Hannover kämpft er darum, dass sein Ruf wieder hergestellt wird. Doch trotz Buch und Medien-Interviews bleibt sein Image ramponiert.

Foto: Laurence Chaperon

Eine Heldenreise wie im griechischen Drama

Nun ist die ganze Affäre zu komplex, zu vielschichtig, um sie in einem knappen Beitrag hinreichend zu analysieren. Doch als Journalist beobachte ich den angeblichen „Skandal“ von Anfang an sehr kritisch und diskutiere auch in Seminaren sehr intensiv, welche Erkenntnis sich daraus ableiten lässt.

Für mich gleicht der Fall Wulff einem griechischen Drama: Im ersten Akt genießt der politische Held die Gunst der Medien. Als Glamour-Paar werden Bettina und Christian Wulff hoch gefeiert: smart, dynamisch, erfolgreich. Für Aufsehen sorgt die „Bremer Rede“ des Bundespräsidenten zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“

Mit diesem Satz beginnt der zweite Akt im Drama Wulff: Die Leitmedien von Bild bis FAZ greifen den Bundespräsidenten an: Er habe „den Kontakt zur Wirklichkeit verloren“. Und Focus veröffentlich einen Gastbeitrag des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst: „Es gibt eine christliche Leitkultur, Herr Bundespräsident“. Der Bischof genießt in diesem Moment noch die Gunst der Medien, gerät aber wenig später selbst ins Kreuzfeuer.

Jeder wollte den größten Stein werfen

In seinem Buch „Ganz oben, ganz unten“ beschreibt Christian Wulff ausführlich die „Jagd“, die kurz nach seiner Rede begonnen hat. Ab Dezember 2011 wird er zwei Monate lang medial in die Enge getrieben. „Jeder wollte den größten Stein werfen“, kommentierte Hans Leyendecker von der „Süddeutschen“ dieses journalistische Jagdtreiben, das im Februar 2012 mit dem Rücktritt Wulffs seinen Höhepunkt erreicht.

Im dritten Akt ermittelt die Staatsanwaltschaft über 14 Monate. Das Landeskriminalamt agiert mit 24 Mann und durchleuchtet Wulffs gesamtes Leben von der Schulzeit bis in die Gegenwart. 30.000 Seiten umfassen die Ermittlungsakten, die den Steuerzahler vier bis fünf Millionen Euro kosten. Das Ergebnis: Christian Wulff wird freigesprochen. Er ist, wie es der Richter ausdrückt, „uneingeschränkt unschuldig“ – ohne Wenn und Aber.

Doch was ist mit seinem Ruf?

Christian Wulff tritt die Flucht nach vorne an: Angriffslustig stellt er sich im Sommer 2014 dem „Spiegel“ zu einem Streitgespräch und fordert eine kritische Diskussion über die Rolle der Medien in seinem Fall. Nach meinen Beobachtungen bleibt die beabsichtigte Selbstkritik bei den wichtigsten Leitmedien jedoch aus. Erneut wird das ehemalige Staatsoberhaupt mit Häme überschüttet. Nur „Die Zeit“ gibt selbstkritisch zu: „Es ist nicht im Ansatz benannt, geschweige denn begriffen worden, dass nicht Christian Wulff einen Skandal hatte, die Medien selbst hatten einen Skandal.“ (31.08.2014)

Doch was nützt ihm das? In der öffentlichen Meinung ist sein Image schwer beschädigt, er hat sein Amt verloren, seine Ehe ist zu Ende. Kurzum: Er ist als Person gesellschaftlich geächtet, sozial isoliert, politisch tot. Margot Käsmann hat am Scheitelpunkt ihrer vergleichsweise kurzen Krise das Bibelzitat genutzt: „Ich kann nicht tiefer fallen, als in Gottes Arm.“ Mit ihrem Rücktritt hat sie eine starke Popularität gewonnen und füllt heute ganze Stadthallen, wenn sie zu Vorträgen auftritt.

Ob dies dem ehemaligen Bundespräsidenten genauso ergeht – ich glaube kaum! Wie Käsmann hat er offen seine Fehler eingestanden, in seinem Buch beschreibt er detailliert, in welchen Bereichen er versagt hat. Doch die Krise dauerte insgesamt zu lange, zu tief hat sich die mediale Kritik in die Seele der Bevölkerung eingegraben. Sie liegt bis heute wie feiner Mehlstaub über der öffentlichen Meinung und verhindert eine Versöhnung mit dem ehemaligen Staatsoberhaupt.

Diese Häme bringt uns um

„Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, dieses Zitat Jesu passt messerscharf auf den Fall Wulff, doch eine derartige Selbsterkenntnis vermisse ich in der öffentlichen Verurteilung. Christian Wulff wurde nicht nur mit ein paar Pflastersteinen beworfen, sondern zwei Monate lang mit einer tonnenschweren Last. Dass er dieses Dauerfeuer der medialen Vorwürfe überstanden hat, schreibt er seinem christlichen Glauben zu. Doch im Gegensatz zu anderen politischen Führungskräften kann er nicht mit der Unterstützung seiner politischen Kollegen rechnen – bis auf wenige Ausnahmen wie Peter Hinze ducken sie sich. Und auch in der Bevölkerung regiert eher die Schadenfreude: „Das geschieht ihm recht, warum spricht er auch beim Chefredakteur der Bild-Zeitung auf den Anrufbeantworter?“

„Diese Häme bringt uns um“, hat Christian Wulff im „Spiegel“-Interview formuliert und zu einer selbstkritischen Diskussion eingeladen. Leider stelle ich in meinen Gesprächen mit Freunden und Seminarteilnehmern nur wenig Empathie mit dem gefallenen Helden fest. Ich empfehle dann Wulffs Schilderung der Krise. Sein Buch liest sich wie ein packender Medien-Krimi, der auch den Glauben an das Rechtssystem unseres Landes auf die Probe stellt. Vor allem öffnet es eine neue Sichtweise: Aus dem Blickwinkel von Christian Wulff bekommt der ganze Skandal eine ganz andere Dimension. Es geht nicht nur um seine Fehler, die er offen eingesteht, sondern auch um das Konzert von Medien und Justiz, die wie von unsichtbarer Hand gelenkt eine Melodie erklingen lassen: Spiel mir das Lied vom Ende des Präsidenten, auch „Wulff-Bashing“ genannt.

Wie viel Respekt kann ein Politiker erwarten?

Nach dem schnellen Rücktritt von Horst Köhler gab es etliche Diskussionen, ob er als Präsident zu dünnhäutig, zu sensibel war. Im Vergleich zur Causa Wulff war dies nur ein laues Lüftchen, das dem renommierten Staatsmann von den Medien entgegen wehte. Mit den Erfahrungen, die Christian Wulff machen musste, frage ich mich heute, ob Köhlers dünnhäutige Entscheidung nicht die klügere war? Sein überraschender Rückzug bewahrte Horst Köhlers Reputation vor größerem Schaden. Er gilt nach wie vor als ehrbarer Staatsmann, der sich um unser Land verdient gemacht hat.

Doch die zentrale Frage bleibt für mich: Wie viel Respekt kann ein Politiker erwarten? Christian Wulff berichtet in seinem Buch, dass für ihn die üblichen 100 Tage Schonfrist zum ersten Mal nicht galten. Bereits am Tag nach seiner Nominierung für das Amt zum Bundespräsidenten und auch danach wurde er von den Medien gejagt. Selbst seine Frau Bettina musste sich gefallen lassen, mit dem Rotlicht-Milieu in Verbindung gebracht zu werden, um ihre Reputation zu beschädigen.

24-Stunden-Aktualität im Internet

Christian Wulff ist klug genug, sich nicht als Opfer zu inszenieren. Doch er bringt einen Trend, der häufig vergessen wird, klar auf den Punkt: Wir leben in der Phase eines Echtzeit-Journalismus, gemeint ist die gemeinsame „Jagd“ von sozialen Netzwerken, Blogs und traditionellen Medien nach der schnellen Enthüllung, der stärksten Geschichte. An seinem Beispiel ist diese Hatz nach Skandalen erschreckend deutlich geworden. Ein Trend, der bereits in den Doktortitel-Affären (Guttenberg, Koch-Mehrin, Schavan) zu beobachten war. Und jüngst auch in der „Skandalisierung“ des Limburger Bischofs und der Diskussion um sein „protziges Wohngebäude“.

Wer hat noch den Mut für ein öffentliches Amt?

Vor diesem Hintergrund bin ich sehr gespannt, ob die Diskussion der Medien und die Selbstkritik in den kommenden Wochen differenzierter wird, als dies bislang zu beobachten ist. Spannend bleibt für mich auch die Frage, ob wir in Zukunft genügend begabte Führungskräfte finden, die bereit sind, in unserer Medien-Republik dem Land als Politiker zu dienen. Sie müssen fürchten, dass ihr Privatleben wie bei Wulff „unangemessen, skandallüstern und übertrieben“ zur Schau gestellt wird. Dieses Zitat stammt von Edda Müller, der Vorsitzenden von Transparency International, die weltweit Korruption an den Pranger stellt. Sie warnte zudem vor „medialer Form von Lynchjustiz“.

In Christian Wulffs Buch habe ich ein Zitat gefunden, das mich zum Nachdenken anregt: „Wer beim Zuknöpfen einer Strickjacke das erste Knopfloch falsch knöpft, wird es im Fortgang nie schaffen, die Jacke ansehnlich zuzuknöpfen.“ Ich befürchte, es wird noch Jahre dauern, bis seine Reputation wieder einigermaßen hergestellt ist. Wulff steht eine wahre Sissiphos-Arbeit bevor: dieselben Medien zu nutzen, die einst seinen Ruf ramponiert haben, damit sein öffentliches Image künftig wieder an Glaubwürdigkeit gewinnt. Doch die Risse in seiner Reputation, die Sprünge im „Wulffschen Porzellan“ werden wohl für immer sichtbar bleiben.

Rainer Wälde ist Vorsitzender des Deutschen Knigge Rats und Herausgeber des „Großen Knigge“. Als Keynote Speaker ermutigt er seine Zuhörer, ihre Originalität zu leben. In seinem wöchentlichen Business-Blog gibt er wertvolle Tipps für ein stimmiges Auftreten im beruflichen Alltag.