Durch die Daten Cloud hat sich unser Leben stark gewandelt: Musik, Fotos, Adressen – alles wird hochgeladen und ist überall wieder abrufbar. Doch nun warnen Forscher, dass sich mit der digitalen Wolke auch ein wichtiger Kern unserer Identität verändert.

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Gleichförmigkeit statt sinnlicher Haptik

In der Hamburger Kunsthalle stehe ich vor einem unscheinbaren Gemälde: Eine Wolke, kunstvoll gemalt von Johan Christian Dahl. In vielen Schichten hat er dieses luftige Gebilde dargestellt. So vielschichtig wie unser Leben vor der Digitalisierung: Briefe, Fotoalben und Notizbücher waren über Jahrzehnte unser analoges Gedächtnis.

Statt der sinnlicher Haptik von Papier vertrauen wir unsere Erinnerungen heute der digitalen Datenwolke an. Wir wissen nicht, auf welchen Servern im Ausland unsere biografischen Nullen und Einsen gespeichert werden. Dieser Wandel hat gravierende Folgen.

Was geschieht, wenn aus unseren Wohnungen alle CDs und Bücher, alle Fotoalben und Notizbücher verschwunden sind? Hinterlassen wir nach unserem Ableben nur noch tote Accounts? Was passiert mit dem digitalen Erbe, wenn unsere Nachfolger von der Cloud gar nichts wissen oder das Passwort verloren gegangen ist?

Digitale Amnesie

In der “Welt am Sonntag” warnt der Erinnerungsforscher Andrew Hoskins: “Wir überantworten die Zukunft der Erinnerung an Medien und Technologien, deren Prozesse, Algorithmen, Eigentümerschaft und Endlichtkeit wir wenig verstehen.” Für den Forscher an der Universität Glasgow ist das Grund genug vor einer digitalen Amnesie zu warnen.

Das Kernproblem kennt jeder von uns, der nach einem anstrengenden Tag zuhause mit einem Tablett “entspannt”. Durch die fehlende Haptik der Medien erinnern wir uns bereits nach einer Stunde kaum noch daran, was wir gelesen oder gehört haben. Ganz im Gegensatz zum gedruckten Buch, das ich aus dem Regal hole und bis zu einer bestimmten Stelle auf Seite 32 lese. Häufig weiß ich auch nach Tagen noch, ob es eine linke oder rechte Seite war, auf der ich eine wichtige Passage markiert habe.

In Dänemark hat sich Professor Dorthe Berntsen auf das autobiografische Erinnern spezialisiert. Den Vorteil von haptischen Gegenständen umschreibt sie so: “Je konkreter und einzigartiger so ein Objekt ist, desto besser. Einzigartigkeit ermöglicht Erinnerung. Gleichförmigkeit verhindert sie,” verrät sie in einem Interview mit “Die Welt”.

Das Familienalbum als Chronik

Ich erinnere mich gut, wie mir meine Eltern ein persönliches Fotoalbum mit den Schwarzweiß-Fotos meiner Kindheit überreicht haben. Es zählt für mich bis heute zu den wichtigsten Schätzen meiner Erinnerungskultur.

Doch in der Datencloud gibt es keine klare Trennung zwischen Gestern und Heute mehr. Jedes Bild – ob von 1970 oder 2020 – hat die gleiche Datenstruktur. Ist es ein Original oder eine Kopie? Das alles scheint im Strom der hunderttausend Bits und Bytes an Bedeutung zu verlieren. Noch gravierender: Es lässt mich mitunter kalt. Ob Bangkok oder Buxtehude – im gleichbleibenden Feed des kühlen Touchpads verschwimmen viele Emotionen.

Ganz anders dagegen die Familienschätze, die ich nach dem Tod meines Vaters in unserem Elternhaus vorgefunden habe: Alte Langspielplatten, der erste Führerschein, die “graue Pappe”. 100 Jahre alte Fotografien, die noch mit einer Plattenkamera aufgenommen wurden. Soll ich sie digitalisieren oder als physische Erinnerung aufbewahren?

Verlieren wir die Kontrolle über unsere Vergangenheit?

Als regelmäßiger Blogleser wissen Sie, dass ich kein Nostalgiker bin, sondern ein neugieriger “Early Adopter”, der frühzeitig technische Trends ausprobiert und analysiert. Doch in der Biografie-Arbeit mit Führungskräften beobachte ich, wie wichtig die analoge und sinnliche Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit ist.

Deshalb stelle ich heute die kritische Frage: Wem vertrauen wir den Zugang zu unseren biografischen Erinnungen an? Wer sind die Gatekeeper unserer Vergangenheit: Die Cloudserver von Apple, Amazon oder Google? Oder pflegen wir unsere eigene Erinnungskultur?

Nach dem Workshop mit einem innovativen Druckereibesitzer habe ich mich vor zwei Jahren entschieden, meinen persönlichen Erinnerungsspeicher wieder analog zu führen. Holger Vogt, der in vierter Generation das Familienunternehmen leitet, erklärte mir, wie wichtig für ihn die handgeschriebenen Protokolle aller Begegnungen sind. Er erinnert sich leichter an das Gesagte, kann die Vereinbarungen schneller wiederfinden.

Seit unserer Begegnung arbeitete ich wieder mit handgeschriebenen Notizbüchern der Papier-Manufaktur Leuchtturm 1917. In allen Sitzungen, Seminaren und Beratungen begleitet mich ein farbiges Buch und ich weiß auch noch nach einem Jahr: “Das habe ich in meinem türkisfarbenen oder orangen Band aufgeschrieben”.

Erinnerungen im Flanier-Modus

Nach einigen Jahren des Testens kaufe ich “Die Zeit” und “Der Spiegel” wieder am Kiosk statt digital. Wichtige Fachbücher erwerbe ich gedruckt und markiere haptisch mit farbigen Flags einzelne Passagen. Bei der Entscheidung für die analogen Printprodukte hat mir die Gehirnforschung geholfen. Während auf der Glasscheibe des Tabletts unser Gehirn im Stressmodus arbeitet, nehmen wir gedruckte Informationen im Flaniermodus auf. Inhalte werden schneller verstanden und bleiben länger in Erinnerung.

Meine Termine speichere ich dagegen in der Cloud – auch die digital aufgenommenen Fotos. Einmal im Jahr leiste ich mir jedoch den Luxus, die schönsten Bilder in einem Jahresalbum ausdrucken zu lassen. Für meine Frau und mich ist es ein haptisches Vergnügen, die Erinnerungen des letzten Jahres noch einmal genußvoll auf Papier zu betrachten.

Auch in der Biografie-Arbeit, dem “Goldzirkel” arbeiten wir mit unseren Kunden bewußt analog. Die Landkarte des Lebens, die Mottoziele und auch die Collage der eigenen Zukunft gestalten wir haptisch mit Papier. Im Feedback der Teilnehmer erfahren, wie wichtig dieser analoge Prozess ist, um die nächste Lebensphase mit allen Sinnen zu planen und zu erfahren.

Daten Cloud: Begegnungen der dritten Art

Der tägliche Balance-Akt zwischen analog und digital bietet mitunter auch “Begegnungen der dritten Art” – so wie letzten Samstag. Mein Smartphone schickt mir eine Erinnerung auf den Bildschirm: “Die schönsten Momente mit Karin”. Ich bin überrascht, dass mich mein iPhone gerade heute an 35 Jahre Freundschaft erinnert.

Dann wird mir klar: Es liegt an Karins rundem Geburtstag. Die Datenwolke hat den aktuellen Kalendereintrag mit Bildern aus der gemeinsamen Vergangenheit verknüpft. Für mich wurde ein Potpourri der schönsten Momente kreiert. Grinsend erzähle ich meiner Frau von dieser Geburtstagsüberraschung meiner Daten Cloud. Eine schöne Geschichte, über die ich auch Karin bei unserer nächsten Begegnung berichten werde.