Erinnern Sie sich an meinen Blogbeitrag “Mutige Strategien für ein glücklicheres leben”? Für meinen Geburtstag im März hatte ich mir eine neue Mutprobe vorgenommen: Freunde und Bekannte zu einer Vernissage einladen und meine Schwarz-Weiß-Fotos zum ersten Mal ausstellen.

Neue Wege gehen

Zugegeben: Ich war ziemlich nervös, wie meine erste Foto-Ausstellung laufen würde. Um nicht in Stress zu kommen, hingen bereits eine Woche vorher alle Bilder an der Ausstellungswand. Außerdem hatte ich 60 Bilder für eine großformatige digitale Präsentation ausgewählt.

Zu meiner großen Überraschung kamen innerhalb weniger Stunden rund 100 Besucher. Es gab mit einigen sehr spannende Gespräche über meine Bilder. Ich war positiv überrascht, was der eine oder andere Gast in den Fotos entdeckte und interpretierte. Insgesamt gab es sehr ermutigende Rückmeldungen.

Gleichzeitig bin ich mir bewußt, dass ich mich mit der Auswahl meiner künstlerischen Arbeiten natürlich auch verletzlich mache. Aber dieses Risiko gehe ich gerne ein, um auch anderen Menschen Mut zu machen, ihre kreative Energie auszuleben.

Wie komme ich in den kreativen Flow?

Die spannende Frage, die mich seit Wochen umtreibt: Wie kann ich die lange unterdrückte Kreativität noch mehr in meine Persönlichkeit integrieren? Eine sehr gute Gelegenheit, um in den kreativen Flow zu kommen, ist für mich ein halber Tag in der Stille. Seit Jahren habe ich dafür einen Termin in meinem elektronischen Kalender eingetragen, der sich automatisch alle zwei Monate wiederholt.

Das ist für mich ein wichtiger Termin, den ich bei Bedarf innerhalb der Woche schiebe, aber in der Regel nicht lösche. Zeit mit mir selbst. Zeit mit dem Schöpfer, der Quelle meiner Kreativität. Ich starte um 9 Uhr direkt nach einem guten Frühstück und ziehe mich je nach Jahreszeit an einen inspirierenden und vor allem ruhigen Ort zurück.

Das kann im Sommer eine Bank an einem kleinen versteckten See zwischen alten Bäumen sein. Im Winter ein Hotelzimmer in einer abgeschiedenen Pension. Ich starte mit meinem farbenfroh leuchtenden Notizbuch und stelle mir die Frage: Wofür bin ich dankbar?

Ich blättere durch meinen Kalender, um mir die Begegnungen der letzten zwei Monate in Erinnerung zu rufen: Das Kaffeetrinken mit einem engen Freund in Mittelhessen – das war ein kostbarer Morgen. Mir wird bewusst, wie wichtig unsere Beziehung für mich ist, und ich nehme mir vor, ihm das auch zu schreiben.

Auf die innere Resonanz achten

Bei diesem Nachdenken über die letzten Wochen kommt es für mich auf die innere Resonanz an. Auch das sind Anteile in meinem kreativen Schatten, die im normalen Alltag wenig Beachtung finden. Welche Erlebnisse berühren mich auch mit einem gewissen Abstand emotional? Wo spüre ich auch im Rückblick Dankbarkeit oder ein besonderes Glücksgefühl? In diesem Prozess kommen auch wertvolle Erkenntnisse an die Oberfläche meines Bewusstseins.

Wenn ich auf die innere Resonanz achte, erkenne ich auch, ob eine Lösung oder eine Idee für mich richtig ist. Das geschieht, indem ich die Beziehung zu ihr abtaste. Mir ist aufgefallen, dass ich manche Dinge, mit denen ich mich nicht wohlfühle, niemand anderem erzähle. Doch Dinge, die mich positiv bewegen und stärken, die erzähle ich gern. Diese Beobachtungen zeigen mir auch eine innere Entwicklung an und signalisieren mitunter: Das ist der richtige Weg.

Dazu fällt mir ein konkretes Beispiel aus der Fotografie ein. Vor 25 Jahren habe ich primär Landschaften fotografiert. Mit einer analogen Linhof-Kamera bin ich durch Kanada und die USA gereist, um großformatige Dias im Format 6 x 17 aufzunehmen. Das war ein sehr spezielles Format, auf einem Rollfilm waren nur vier Aufnahmen möglich, die Belichtung musste ich mit einem Belichtungsmesser manuell ermitteln. Doch die Aufnahmen waren von der Qualität so hochwertig, dass man sie gut für Kunstkalender oder Bildbände verwenden konnte.

Doch dann spürte ich, dass die innere Resonanz abnahm. Statt einsamer Landschaften in den Rocky Mountains faszinierten mich viel mehr die Menschen, ihr Alltag, ihre Träume und ihr Lebensumfeld. Die Begegnungen mit interessanten Personen erfüllten mich viel stärker als malerische Bergseen und schneebedeckte Gipfel. Statt großer Landschaftspanoramen fokussierte ich mich auf menschliche Porträts im Format 6 x 6. Mit meiner Rolleiflex gelangen mir einige berührende Aufnahmen.

Chancen nutzen und Veränderung annehmen

In dieser Reflexion habe ich erkannt, wie wichtig es ist, dem Leben eine Chance zu geben und die Veränderung anzunehmen. Damit will ich nicht das eine gegen das andere ausspielen. „Alles hat seine Zeit“, sagt ein jüdischer Dichter und manchmal geht eine kreative Phase auch zu Ende. Sie wird von einer neuen Phase abgelöst.

Entscheidend ist für mich nur der Punkt, dass ich das Gute, was ich erlebt habe, nicht krampfhaft versuche festzuhalten, sondern auch loslasse. In dem Moment, in dem ich meine Hand wieder öffne und eine Begabung, ein Thema, einen Menschen wieder loslasse, kann ich mit derselben Hand wieder eine neue Chance ergreifen. Gerade im kreativen Bereich scheint mir das von großer Bedeutung zu sein.

Zurück zu meinem Tag der Stille. Ich habe diese kreative Insel ganz bewusst in meinen Jahresablauf eingeplant – und das seit über 20 Jahren. Gerade der feste Rhythmus – alle zwei Monate – und die bewusste Unterbrechung des Alltags machen ihn zu meinen kostbarsten Erlebnissen. Im Laufe der Jahreszeiten, die auch in meinem beruflichen Leben mal von Saat, dann von Ernte geprägt sind, braucht es Ruhephasen. Tage des Innehaltens, an denen ich in mir auf die Resonanz achte. Mich neu fokussiere und dann die nächste Etappe gehe.

Pottering Time einplanen

Vor einigen Jahren haben meine Frau Ilona und ich ein Modell aus Northumberland, der nördlichsten Grafschaft Englands, mitgebracht. Dort gibt es eine ökumenische Gemeinschaft: die Northumbria Community. In ihrem Alltag haben sie Tageszeitengebete integriert und eine kreative Zeit, die sie Pottering Time nennen. Am Anfang dachten wir an Töpfern, dann erklärten uns die Mitarbeiter, dass es ums Einpflanzen geht. Diese kreative Zeit gehört zum Tagesablauf fest dazu.

Wer mag, kann wirklich in den großen Garten der Gemeinschaft gehen und dort Unkraut zupfen, Früchte ernten oder neue Pflanzen setzen. Doch diese Pottering Time meint alle kreativen Unterbrechungen der Arbeit. Einfach ein Buch lesen, im Hof sitzen und ein Gedicht schreiben, ein Bild malen, aus Ton etwas formen oder eine Collage anfertigen. Täglich etwas Kreatives einpflanzen, das mich glücklich macht.

Ilona und ich haben nach unserer Rückkehr aus Nordengland angefangen, diese Idee in unserem Alltag umzusetzen. An manchen Tagen fiel es uns beiden leicht, an anderen waren die Pflichten so stark, dass wir es vergessen hatten. Doch über die Monate spürten wir, wie glücklich uns diese kreative Stunde, die Musterunterbrechung machte.

Jede Pottering Time gibt dem Leben eine weitere Chance, damit etwas Neues entstehen kann. So wie meine erste Foto-Ausstellung am letzten Wochenende.