Mit schwerem Gepäck flog ich zu einer Auszeit ans Meer: Vier Bücher und ein Todesfall. Was ich nicht ahnte: Es würde noch ein zweiter dazu kommen.

Costa Calma Fuerteventura – shutterstock

Eine Eigenkur, um alle Sinne zu schärfen

Die Landung auf Fuerteventura versprach Leichtigkeit. Strahlende Sonne bei 28 Grad. Schneller als ich dachte kam ich ins Schwitzen und musste schon im Flughafen den ersten Ballast ablegen. 

Dabei hatte ich schon in Deutschland alles weggelassen, was nur ging. Am Flughafen hatte ich allen Verlockungen widerstanden und keine “Zeit” und keinen “Spiegel” gekauft, um mich auf der Reise abzulenken.

Im Gegenteil: Ich wollte meine Sinne neu schärfen. 9 Tage, 24 Stunden alleine mit Gott am Meer und meinen Gedanken sein. Eine Art Eigenkur, wie sie mir mein Therapeut bereits vor einem Jahr verschrieben hatte. 

Was lastet auf unseren Schultern?

Bereits nach der Ankunft wiegte mich das Rauschen der Brandung in den Schlaf. Wie in einem Boot trieb ich in dieser Nacht aufs Meer und wachte alle paar Stunden schweißgebadet wieder auf. 

Am ersten Morgen gab es ein herzliches Wiedersehen mit der Costa Calma. Ich liebe diesen kilometerlangen Sandstrand. Doch mit jedem Meter, den ich lief, drückte der Rucksack immer mehr auf meinen Schultern. Ich spürte eine schwere Last, die meine Füße noch schwerer in den Sand versinken ließen.

Mir wurde bewusst, dass ich trotz strahlender Sonne in meinem Tunnelblick gefangen war. Sicher, das Meer war da, aber ich war in meinen Gedanken blockiert. War es die Trauer? Oder der Blick in eine unsichere Zukunft?

Die Augen eines Neugeborenen

Ich griff nach dem mitgebrachten Buch: „The Virgin Eye“ von Robin Daniels, das ich zum zweiten Mal lesen wollte.   Der langjährige Therapeut, der 30 Jahre im Stil von C.G. Jung Menschen analysiert hat, lädt ein, die Welt mit den Augen eines Neugeborenen zu sehen. 

In seiner Praxis hat er viele Menschen erlebt, die ihre Sinne laufend mit neuen Reizen befeuern, während sie anschließend einen emotionalen Burnout beklagen. Auch Urlaube könne unsere Sinne überfordern. 

Spontan muss ich an ein nettes Paar denken, mit denen ich beim Check-in ein kurzes Gespräch hatte. Sie waren auf dem Weg in den Robinson Club „mal richtig auspowern und Party machen.“

Mir dagegen war nach Detox: Entschleunigen, keine Weltnachrichten, keine Seifenopern. Stattdessen Meeresrauschen, Stille, Sinne schärfen. „Lärm zerstört Konzentration und Kreativität“, betont Robin Daniels in seinem Buch. 

Gönnen wir uns Verarbeitungszeit?

„Je begabter ein Mensch ist, desto mehr Fähigkeiten werden gebraucht und anschließend auch genügend Verarbeitungszeit.“ – „Processing time“, nennt er dies wie bei einem Computer,  um die Verarbeitung und Speicherung der Daten abzuschließen. 

Mit gefällt dieses Wort. Vermutlich braucht meine Seele auch am Meer diese Zeit, um die letzten Monate zu verarbeiten. Mir wird bewusst, dass meine Frau und ich jetzt seit sechs Jahren auf dem Gutshof leben. In dieser Zeit wurde das Gästehaus neu gebaut und eingerichtet, neue Mitarbeiter und Trainer eingearbeitet. 

Zudem haben wir uns in der kurzen Zeit auch beruflich schon drei Mal neu erfunden. Der neue Ort, Corona und der Krieg haben uns massiv herausgefordert. Wir sind beide Pioniere und lieben es, neue Ideen zu entwickeln – aber es braucht auch enorme Kraft und „Processing time“.

Freiraum, Frieden und Stille

Jean Paul Satre erzählt in seinem Roman „Nausea“ von einem Restaurantbesitzer, der seinen Kopf immer dann leerte, wenn sein Café schloss und die Gäste nach Hause gingen. Sartres Lösung im Roman: Freiraum, Frieden und Stille. 

Dieser Dreiklang beschreibt sehr gut, was nach einem anstrengenden Tag oder einer vollen Woche wirklich gut tut: Unstrukturierte freie Zeit. Mit dem Konzept des Sabbats haben wir ein über Jahrtausende bewährtes Modell. 

Doch statt innezuhalten, versuchen wir noch mehr in jeden Tagen hineinzustopfen und fühlen uns gut dabei, möglichst lange durchzuarbeiten und uns auch im Urlaub mal so richtig „auszupowern.“ 

Zukunft in unseren Knochen

Der Jungianer Robin Daniels empfiehlt in seinem Buch einen ganz anderen Weg. „Die Gegenwart ist schnell, die Zukunft wird noch schneller sein.“ Nach seiner Beobachtung übersteigt die „Diversität des Wandels das menschliche Vermögen, damit umzugehen.“

Statt immer schneller zu rennen, „brauchen wir mehr Zeit, allein oder ein Gruppen, um unsere Neugier und Intuition, unser Vorstellungsvermögen und das langfristige Denken zu mobilisieren.“ 

Dazu zitiert er den Gelehrten C.P. Snow, der bereits 1959 gefordert hat: „Wir brauchen Zukunft in unseren Knochen“.  Daniels fügt hinzu: Je atemloser die Gesellschaft, desto mehr brauchen wir Raum zum Atem holen: „Zeit zum Innehalten, Reflektieren, Lesen, Diskutieren, Lernen und Wachsen.“  

Wenn der Tod ein zweites Mal klingelt

Mir bleibt auch in meiner Auszeit am Meer nichts anderes übrig. Gleich am ersten Tag  klingelt mein Telefon: Mein Cousin hatte erst wenige Tage zuvor den Tod meines Onkels mitgeteilt, nun ist auch noch meine Stiefmutter gestorben. Mein erster Gedanke: Wie gut für sie – die 95jährige wollte schon seit Jahren gehen. Doch dann begann das Karussell der Gedanken: Muss ich gleich wieder zurückfliegen und vieles mehr. 

Was mich in diesen Tagen der Trauer sehr entlastet hat: Wir konnten uns in Ruhe voneinander verabschieden. Meiner Stiefmutter war bewusst: Es war das letzte Mal, das wir uns sahen.  Doch gleichzeitig ist auch dieser Abschied wieder ein Momentum Mori, eine Erinnerung über mein eigenes Leben nachzudenken.

Ich gehe immer wieder hinaus ans Meer, lausche der Symphonie der Wellen. Es braucht sieben Tage „Processing time“, bis ich meine Gedanken sortiert und verarbeitet habe. Erst heute wird mir bewusst, wie schnell sich der Sauerstoff, der im Schaum jeder Welle ans Ufer getragen wird, wieder im Sand auflöst.  

Kurz halte ich inne und wähle einen rauen, scharfkantigen Stein – er soll das Schwierige symbolisieren, alles das, was nicht gelungen ist. Bewusst will ich das ablegen, um frei für Neues zu werden. In einem weiten Bogen werfe ich ihn hinaus ins Meer.  Ich beobachte den Vollmond, der am Horizont aufsteigt. Er erinnert mich daran, dass auch in diesem Moment ein neuer Zyklus des Lebens beginnt.