Hand aufs Herz: Wie geht es Ihnen mit der sozialen Distanz? Kein Handschlag mehr? Ok, geschenkt. Aber keine Umarmung mehr unter engen Freunden, getrennte Einzeltische? Sorry, aber an diese “neue Normalität” will ich mich nicht dauerhaft gewöhnen.
Szenen wie in einem Loriot Film
Irgendwie haben wir uns alle dran gewöhnt, an dieses Abstandhalten: An Pfingsten hatten wir 15 Freunde zu Besuch, um gemeinsam das keltische Kreuz vor der Kapelle einzuweihen. Fast eine Woche Vorbereitung, Abstand der Stühle messen, Hygiene-Regeln checken. Tische mit zwei Meter Abstand im Garten aufstellen. Kein Hug, kein Handschlag, Desinfektionsmittel überall.
Na klar: Wir sind vernünftige Menschen, Bildungsbürger, Mittelschicht, die sich an die staatlichen Regeln halten. Der Verstand sagt: Muss jetzt sein, doch das Herz streikt, ist irgendwie beleidigt. Für mich fühlt es sich immer noch fremd und falsch an, wenn jeder meiner Freunde wie im Cafe distanziert an einem Einzeltisch sitzt.
Noch kurioser finde ich folgende Szene zwei Tage später: Eine befreundete Familie mit drei Töchtern kommt zu Besuch. Wir bauen eine Extra-Kaffeetafel für diese fünf Personen auf, meine Frau und ich sitzen mit zwei Metern Abstand an einem separaten Tisch. Es kommt mir vor wie die Szene in einem Loriot-Film, ziemlich künstlich und inszeniert.
Wenn Umarmung fast ein Verbrechen ist
Das soll die neue Normalität sein? Nein Danke, auf Dauer will ich das nicht. Dazu dieses diffuse Gefühl von Misstrauen, das sich wie ein unsichtbarer Nebel in die engsten Beziehungen einschleicht: Bringt mein Gast, mein Freund, heute das Virus mit? Als Optimist und Vertrauens-Mensch, der die Nähe liebt, ist das für mich eine emotionale Katastrophe.
Auch Harald Martenstein scheint es so gehen. Er ist Redakteur des “Tagesspiegels” und schreibt in seiner aktuelle Kolumne im Zeit-Magazin: “Ich möchte mein altes Leben zurück, eins zu eins. Meistens halte ich mich an die Corona-Regeln. Aber wenn mich einer fragt, ob ich lieber noch 20 Jahre auf diese Weise leben möchte oder nur 15, die aber in Saus und Braus, wähle ich Letzteres.”
Martenstein fragt: “Was sind das für Zeiten, wo eine Umarmung fast ein Verbrechen ist? Das ist nur als Ausnahmezustand erträglich, nicht als neue Normalität.” Zugegeben, mir geht es genauso, ich will mich an diese soziale Distanz nicht dauerhaft gewöhnen!
Geht eine Epoche der Freiheit zu Ende?
Der Begriff der neuen Normalität wird Paul Sailer-Wlasits zugeschrieben, er ist Sprachphilosoph in Österreich. In einem Interview mit “heise online” bemerkt er: “Wollen wir uns daran gewöhnen? Wollen wir die umfassenden Anpassungsleistungen, die diese neue Normalität beansprucht, als Gesellschaft – ohne zu hinterfragen – einfach so erbringen?”
Der österreichische Denker beschrieb schon vor der Corona-Krise, dass sich unsere westliche Gesellschaft langsam in etwas “Neues und Autoritäres” verwandelt. Nach seiner Beobachtung gibt es immer mehr Appelle, was jeder zu machen und zu lassen hat. Dieses angepasste Verhalten wird durch die Krise bestärkt, weil es jetzt um Leben und Tod geht.
Doch Paul Sailer-Wlasitz prangert nicht nicht nur die banale Maskenpflicht an: “Mit neuer Normalität meine ich etwa auch die unaufhaltsame Beschleunigung der digitalen Transformation und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Druck, dem Milliarden von Menschen ausgesetzt werden. Wann beginnt die Pflicht dagegen aufzustehen und in welcher Form?”
Als Knigge-Experte finde ich diese Diskussion ausgesprochen spannend: Wie entwickeln wir als Gesellschaft unsere Verhaltensnormen weiter? Wer definiert momentan, was geht und was nicht? Ich persönlich möchte mich bei allem Verständnis für die Entscheidungen der Politik nicht dauerhaft an diese “neue Normalität” gewöhnen. Ich bin überzeugt, wir brauchen einen öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs über dieses Thema.
Wollen wir eine asiatische Kultur?
Als Filmemacher war ich in den letzten dreissig Jahren in vielen asiatischen Ländern unterwegs. Bereits vor Jahren habe ich in Tokio das uniforme Maskentragen der Bevölkerung beobachtet. Die Bilder der letzten drei Monate in Europa erinnern mich an die asiatische Kultur. Höflich, angepasst, aber auch distanziert. Bei aller Liebe zu Asien: Ich möchte diese Kultur der sozialen Distanz nicht dauerhaft in unserem Alltag leben.
Dafür sind mir die Begrüßungsrituale in unserer deutschsprachigen Kultur viel zu kostbar, vor allem wenn Sie von einer inneren Herzenshaltung der Wertschätzung geprägt sind. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Mir geht es nicht um Gesten, die wie lästige Floskeln mitunter nur abgespult werden. Aber auf einen aufrichten Handschlag, eine herzliche Umarmung unter Freunden, ein nahes Gespräch möchte ich auf Dauer keinesfalls verzichten.
Paul Sailer-Wlasitz warnt davor, die neue Normalität leichtfertig zu adaptieren: “Das politische Denken und Handeln wird in Krisen – wie durch einen Filter – um eine Stufe rigider und in der politischen Sprache gewinnt der Appell die Oberhand. Der appellative Tonfall zählt aber zum autoritären politischen Sprachrepertoire.”
An dieser Stelle bin ich besonders hellhörig, wenn der Sprachphilosoph ergänzt: “Das Appellative an sich zählt ja zum Kernbestand der totalitären Sprache, in Diktaturen, Monarchien, Militärregierungen usw. Deshalb ist es wichtig, diese verbale Grenzlinie nie zu überschreiten, nur weil eine neuartige Form von Krise vielleicht dazu einlädt.”
Die Wahrheit ist… wirklich?
In der Corona-Krise habe ich immer wieder beobachtet, wie westliche Politiker erklären, dass ihre Entscheidungen angeblich “alternativlos” sind. Besonders heikel empfinde ich die entsprechende Krisenrhetorik, wenn Sebastian Kurz Sätze mit der Bemerkung einleitet: “Die Wahrheit ist …”
Paul Sailer-Wlasits sieht diese Phrase ausgesprochen kritisch: “Das ist in erster Linie eine Kompetenzüberschreitung. Der tiefe Respekt vor der Wahrheit und Wahrhaftigkeit scheint im politischen Bereich jedoch – von einigen leuchtenden Ausnahmen abgesehen – kein dominantes Erbmerkmal zu sein. Und zwar deshalb, weil Wahrhaftigkeit und der Wahrheitsgehalt von Aussagen für den Erfolg eines Politikers nur von sekundärer Bedeutung sind.”
Auf diesem Hintergrund mache ich Ihnen Mut, den öffentlichen Diskurs zu wagen. Sprechen Sie in Ihrer Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis ganz offen darüber, wie Sie die soziale Distanz erleben. Suchen Sie nach Worten für Ihre Emotionen. Stehen Sie ehrlich zu Ihren Gefühlen: Tun Sie nicht so, als ob dieses Verhalten “normal” für Sie wäre.
Am Ende unserer Pfingstbesuche nahm ein Gast meine Frau Ilona einfach in den Arm, wortlos – ohne vorher zu fragen. Einen Moment schaute ich beide etwas irritiert an. Es schien wie ein unausgesprochener Aufstand gegen die “neue Normalität”. Niemand kommentierte. Ich glaube, beide hatten ein gutes Gefühl – wie in alten Zeiten, auch wenn sie sonst für Vorsicht und Rücksicht einstehen.
Guten Morgen, lieber Rainer,
ich denke, wir wollen uns nicht und werden uns auch nicht an die neue Normalität gewöhnen. Gut, Masken tragen, damit kann ich noch eine Zeit lang leben. Weil das Umfeld ja genau so uniformiert aussieht wie ich. Was mir wirklich Sorgen macht sind die Anordnungen im Krankenhaus, Alten- und Pflegeheimen und Behinderten-Einrichtungen. Dort m u s s t e n die Anordnungen der Bundesregierung bzw. Landesregierung sofort umgesetzt werden. Das ging ja sogar soweit, dass anfangs ein werdender Vater seine Frau nicht in den Kreißsaal begleiten durfte. Das “eingesperrt sein” in den anderen Einrichtungen ist für die Bewohner sehr sehr schlimm, fast unerträglich. Zuletzt 1 Besucher für 1 Stunde in der Woche und das auf der Terrasse oder hinter einer Glasscheibe. Gut dass es Sommer wird. Das Pflegepersonal hat – wie bekannt – Corona rein getragen, so dass Infektionen entstanden sind. Die Betreuten in Behinderten-Einrichtungen entwickeln Essstörungen und Tics, die sie sehr lange begleiten werden. An die frische Luft kommen sie wenig wegen Personalmangel. Inzwischen sind Spaziergänge mit den Angehörigen erlaubt, natürlich mit Mund- und Nasenschutz. Auf Arbeit in der Werkstatt – ein hohes Gut und dadurch einen strukturierten Tagesablauf müssen die meisten noch lange warten.
Und da wird nicht gefragt, ob sie mit der neuen Normalität einverstanden sind. Ich denke, die angeordneten Maßnahmen waren
für Bewohner, Mitarbeiter und Angehörige mehr als hart und noch lange nicht zu Ende. Ob das alles notwendig war? Ich bekomme keine Antwort.
Grüße (auch an Ilona)
Rosemarie
Ja, wir brauchen einen offenen Diskurs darüber, wie wir in unserer Gesellschaft miteinander umgehen wollen. Wir müssen darüber sprechen, wie wir mit Menschen anderer Meinung, anderer Überzeugung, mit Menschen anderer Hautfarbe, mit anderer Kultur, mit „Fakten“, „Alternativen Fakten“ und der „Wahrheit“ umgehen wollen, ohne zu diffamieren, vorzuverurteilen oder Menschen gar mundtot zu machen (z.B durch sog. „Faktenchecks“) . . .
Gleichzeitig denke ich darüber nach, was ich an der jetzigen Situation wie verändern möchte. Ich beginne bei mir selbst. Und dann spreche ich mit anderen Menschen darüber. So kann Veränderung weitergehen . . .
Wir spielen Tischtennis im Verein. Alles alte Leute. Vor Corona haben wir Ü 80 Turniere gespielt. Der Sieger war 84 Jahre alt. Wir haben gefeiert und es war prima. Jetzt darf kein Doppel mehr gespielt werden und duschen ist verboten. Nein, wir gewöhnen uns an gar nichts und Doppel wird gespielt. Jetzt stinken wir und sind Nass geschwitzt, wenn wir vom Training kommen. Wir sterben nun wohl an einer Erkältung.
Ich will mich auch nie daran gewöhnen. Bitte keine Vermummung auf unbestimmter Zeit. Ich möchte ein Lächeln meines Gegenüber erkrennen.
Danke für die differenzierten Rückmeldungen. Ich wünsche Ihnen gute Gespräche in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis.