Heute morgen beobachte ich meinen Nachbarn, der seine Tochter mit dem Auto in die Schule fährt. Ich kann gut verstehen, dass der Vater möchte, dass sie sicher in die Grundschule kommt. Doch die Schule ist nur ein paar Hundert Meter entfernt – der Weg führt über unseren Gutshof. Es gibt auf der Strecke keine gefährlichen LKWs, stattdessen friedvolles Landleben. Ich frage mich: Vor was möchte der Vater seine Tochter schützen?

Freiheit
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Willkommen im Land von Airbag, DIN und TÜV

Ich bin zutiefst dankbar für die hohen Sicherheitsstandards in unserem Land. Freue mich über Ingenieure, die sichere Autos bauen, DIN_Vorschriften entwickeln, die uns vor Stromschlag und anderen Gefahren bewahren. Auch der Airbag ist eine wundervolle Erfindung.

Doch alle Normen und Zertifikate suggerieren eine Sicherheit, die es in Wirklich nicht gibt. Wenn ich auf mein Fahrrad steige, vertraue ich darauf, dass Licht und Bremsen funktionieren. Zudem trage ich einen Fahrradhelm. Doch mir ist bewußt, dass ich trotz aller Sicherheitsvorkehrungen vom Fahrrad fallen kann. Dieses Risiko gehe ich ein.

Heute bin ich dankbar, dass mich meine Eltern früh an die Risiken und Nebenwirkungen des Lebens gewöhnt haben. Ab dem ersten Schultag bin ich bei Wind und Wetter – wie jedes Kind in meiner Klasse – in die Schule gelaufen. Als Grundschüler bin ich alleine mit der Bahn in die Großstadt gefahren. Einladungen zu Geburtstagen in allen Nachbardörfern wurden mit dem Fahrrad absolviert.

Ich erinnere mich an die wöchentlichen Radtouren als Teenager in die Jugendgruppe. Zum Nachbarort ging es durch dunkle Felder, die in der Nacht mitunter etwas spucky waren – vor allem wenn die Maiskolben Mannhoch am Wegesrand standen. Aber mit jeder Fahrt wurde ich selbstbewußter und mutiger.

Wie entwickle ich Resilienz?

Im Rückblick bin ich dankbar, dass ich keine Helikopter-Eltern hatten, die mich in irgendeiner Form in Watte gepackt haben. Ich habe früh gelernt, mit Freiheit und Risiken umzugehen. Durch meine Ferienjobs habe ich bereits als Teenager das Berufsleben kennengelernt, die wirtschaftliche Verantwortung.

Unvergesslich sind meine Ferien in einer Familienbäckerei in Pirmasens. Als 14jähriger früh aufstehen, in der Backstube praktisch arbeiten. Oder als 15jähriger in einer Siebdruckerei täglich acht Stunden am Band stehen, wenn am Halbautomat die Fahrpläne für die Frankfurter U-Bahn gedruckt werden.

Mit 16 Jahren habe ich angefangen als Reiseleiter zu arbeiten und 100 Sprachschüler nachts um 3 Uhr vom Zug in Ostende oder Calais auf die Fähre gelotst und dann bis nach London begleitet. Meine Eltern haben mir zugetraut, dass ich das alleine kann. Das hat meine Selbstvertrauen enorm gestärkt und mir gezeigt, was es heißt für andere Menschen Verantwortung zu tragen.

Das freie und wilde Leben voller Risiken

Im ZEIT Magazin habe ich letzte Woche die Geschichte einer Schweizer Schule gelesen. 1991 hat die Pädagogin Rosmarie Scheu die Schule Villa Monte gegründet. In dieser Schule am Zürichsee gibt es seit 33 Jahren keine Lehrer, die unterrichten, keine Noten und keinen Lehrplan. Die Kinder bringen sich selbst Lesen und Schreiben bei. Sie durchlaufen spielerisch die acht Jahre Grund- und Oberschule.

Das Motto der Schule: “Du darfst nicht alles, aber du musst nichts.” Es gibt keine Uhr, es läutet keine Schulglocke. Die Grunschüler werkeln in der Werkstatt, nähen sich Kleider, spielen Theater und bringen sich gegenseitig das bei, was man zum Leben braucht.

Beim Lesen des Artikels liefen mir einige Tränen über die Wangen. Berührt hat mich das freie und wilde Leben, das in dem kleinen Video auf der Webseite von Villa Monte sichtbar wird. Ein Kinderleben ohne Airbag und voller Risiken.

Natürlich braucht es auch mutige Eltern, die ihren Kindern zutrauen, sich in dieser Freiheit selbst zu entwickeln. Die Absolventen der Schule können kein Matura, keine Abiturprüfung ablegen, in der überprüft wird, ob sie den Lehrstoff parat haben. Aber seit 33 Jahren schaffen sie es, ohne Prüfungsangst ihren Weg in das Berufsleben zu finden.

Sehnsucht nach Freiheit

Mein inneres Kind hüpft voller Glück, wenn ich solche Geschichten lese. Ich merke, wie ich selbst mich an dieses Sicherheitsdenken gewöhnt habe. Doch mein kreative Seite sehnt sich nach Freiheit, nach Risiko. Einem Leben, das wie ein Wasserfall belebt und erfrischt.

Was bedeutet das konkret: Es braucht eine Musterunterbrechung. Raus aus dem Gewohnten, dem Vertrauten, der eigenen Komfortzone. Rein in unbekanntes Land. So wie mein Freund Carsten, der als Arzt immer wieder zu medizinischen Hilfseinsätzen aufbricht. Dieses Jahr mit seiner Frau und Tochter in Kenia notleidenden Familien zur Seite steht.

Ich glaube jeder Mensch spürt immer wieder den Lockruf des Abenteuers. Entscheidend ist, ob ich ihm folge. Den Sicherheitsgurt öffne und meinen Radius erweitere – in kreatives und unbekanntes Land.

Wovon träumen Sie?

In welchem Bereich spüren Sie Ihre Sehnsucht nach Freiheit? Ich freue mich auf Ihre Kommentare!

Herzliche Grüße

Rainer Wälde