In diesem verrückten Jahr haben sich meine Freunde als wertvoller Anker im Sturm erwiesen. Ob per Zoom oder persönlich – selten waren mir diese Begegnungen von Herz zu Herz so kostbar.

Freunde
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Zehn Jahre Pause und kein Filmriss

Björn habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen – plötzlich klingelt er mitten in der Corona-Krise an meiner Tür. Ohne Vorankündigung, einfach so da. Mein Herz schlägt höher, ich freue mich riesig. Der Körper vibriert, Glücksgefühle. Auf einen Schlag sind wieder alle Erinnerungen da: unsere gemeinsamen Jahre im Studium, seine Hochzeit, die Geburt der Kinder. Dann lange Funkstille – vielleicht zehn Jahre – doch jetzt ist er wieder da.

Ich spüre Schmetterlinge im Bauch. Aufregung. Er ist älter geworden, hat auch schon ein paar graue Haare, aber sieht immer noch gut aus. In diesem Moment verschwindet der Alltag, die Prioritäten ändern sich. Jetzt hat unsere Freundschaft oberste Priorität, alles andere kann warten. Wie geht’s dir? Die Kinder studieren. Was macht deine Frau? Fragen und Antworten schlagen Purzelbäume – wir beide sind glücklich, uns endlich wiederzusehen. Es ist, als ob wir erst gestern auseinandergegangen wären. Die Rolle unserer Beziehung läuft immer noch mühelos durch den Projektor, es gibt trotz Pause keinen Filmriss.

Ich sitze am Fenster und schaue durch das Scheibenkreuz auf den Gutshof. Der Lockdown hat auch uns über Wochen in die Isolation geführt – wie Millionen von Menschen. Doch in Gedanken sehe ich auch auf dem Hof die Gesichter der Freunde, die uns hier Mut und Zuversicht zugesprochen haben. Gebt nicht auf! Haltet an eurer Vision fest! Diese Worte geben uns Halt, auch wenn über Wochen die physische Nähe fehlt. Etliche Bekannte haben sich aus Vorsicht in ihre „Wagenburgen“ zurückgezogen. Doch die Freunde sind da, rufen an, schreiben über WhatsApp oder auch per Post. Sie sind mein Glück, mein Anker auch in der Krise.

Zeit, um meine Emotionen zu sortieren

Jetzt, im Oktober, habe ich Zeit, meine Emotionen zu sortieren. Ich erinnere mich an die Existenzängste, das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, aber auch an die tiefe Einsamkeit an manchen Tagen. Besonders hart empfinde ich den Geburtstag einer Freundin, der ich während Corona persönlich gratulieren will: An der Garage werde ich schnellsten abgefertigt. „Sorry, ich habe schon einen Besucher. Mehr möchte ich heute nicht empfangen.“ Vollkommen verdattert steige ich ins Auto, muss mehrmals schlucken. Ich fühle mich zutiefst abgelehnt. Eigentlich dachte ich bislang, sie wäre eine gute Freundin, jetzt spüre ich einen Riss, vielleicht habe ich mich in der Qualität unserer Beziehung doch getäuscht?

Ich frage mich: Was ist Freundschaft? Ich erinnere mich an Doris, meine allererste Sandkastenliebe. Auf einem alten Kinderfoto sitzen wir mit vier Jahren gemeinsam im Sandkasten und schauen verklärt in die Kamera. Mit Doris habe ich das Rollschuhfahren gelernt, war stolz, wenn wir die Dorfstraße entlangkurvten. Doch schon in der Grundschule fand ich neue Freunde: Mit Tom konnte ich stundenlang Federball spielen und quatschen ohne Ende.

Mit Eric meine Kraft erproben und Ringkämpfe austragen. Von Niklas Luhmann habe ich gelernt, dass Autonomie ein wesentliches Merkmal von Freundschaft ist. Oder wie es der französische Philosoph Michel de Montaigne ausdrückt: „Weil er er war, weil ich ich war.“ Zwei Menschen, die zueinanderfinden – nicht wegen äußerer Regeln, Familie oder Sexualität, sondern als freies Verhältnis. Freundschaft bedeutet Freiheit. Kein Zwang. 

Freundschaft ist vertraglose Sicherheit

Mir gefällt eine Formulierung, die Alard von Kittlitz in einem Dossier für die „Zeit“ nutzt: „Freundschaft bedeutet eine seltsame Form unerzwungener Verbindlichkeit, vertragloser Sicherheit. Sie scheint den Menschen vielleicht gerade deswegen mehr zu bedeuten denn je.“ Für mich ist es auch eine Form von Liebe. „Philia“ nennt sie die griechische Antike: die Liebe zum Freund.

Unvergessen sind für mich die zahlreichen Briefe, die mir ein Freund in unserem ersten Sommer der Freundschaft geschrieben hat. Seitenlang verfasste er einen Brief nach dem anderen und erzählte mir detailliert den Alltag in seiner Welt als Ehemann, Papa und Selbstständiger. Wir haben uns bei einem Seminar getroffen und als Seelenfreunde entdeckt, als „Anam Cara“ wie die Kelten diese Form der Freundschaft nannten. 

Kennen Sie den Wunsch, jemandem blind zu vertrauen? Sich wortlos zu verstehen? Das sind für mich die Kernmerkmale einer Freundschaft. Doch Corona hat auch in diesem fragilen Beziehungsfeld Narben hinterlassen. Es beginnt bei der herzlichen Umarmung unter Freunden. Lebensnotwendig oder lebensgefährlich? Zu Beginn der Pandemie habe ich distanzierte Freunde erlebt. Die Körpersprache und auch die Worte plädierten für Distanz.

Jetzt im Herbst nimmt die Sorge wieder zu. Im engen Freundeskreis riskiert der eine oder andere noch eine Umarmung. Leichtsinn oder Mut? Offen gestanden kommt mir die Frage zwischendurch etwas lächerlich vor. Wie glücklich bin ich, dass ich weiß: Meine besten Freunde kann ich Tag und Nacht anrufen. Sie werden mich auch in den Arm nehmen und trösten, wenn es „Not-wendig“ ist.