Anfang 2022 berichten die Medien von bekannten Influencern, die ausgestiegen sind oder noch aussteigen wollen. „Hi Leute und herzlich willkommen zu meinem letzten Video“, erklärt zum Beispiel Melina Sophie und berichtet, dass sie unter „seelischem Schmerz“ leide und nicht mehr wisse, wer sie eigentlich sei.

Glaubenssätze
Abschied von Melina Sophie

Welche Glaubenssätze leiten mich?

In der Welt von Facebook, Tiktok und Instagram gibt es Helden, denen Millionen von Menschen folgen. Manchmal sind es attraktive junge Frauen, die beim genauen Hinsehen den Verdacht auf Bulimie erregen. Oder sportliche Männer, die täglich im Fitnesscenter ihre Sixpacks trainieren.

Sie leben Glaubenssätze vor, die Hunderttausende von Follower prägen: Ich bin nur attraktiv und begehrenswert, wenn ich so gestylt und trainiert wie diese Vorbilder auftrete. Immer wieder führen diese Glaubenssätze auch in die Krise der eigenen Identität.

So berichtet jetzt Joey, der mit seinem Youtube-Kanal zwei Millionen Follower hat, er sei „in ein tiefes Loch gefallen“ und wolle sich wieder frei fühlen. Er berichtet von tausend Stimmen in seinem Inneren. Ein passendes Bild für die zahlreichen Glaubenssätze, die ihn bislang angetrieben haben.

Du bist was du leistest

Mich berührt die Ehrlichkeit von Joey in seinem letzten Film: Er gibt zu, dass er versucht hat, den Wünschen von so vielen Menschen und ihren Erwartungen nachzukommen. „Ich fühle mich nicht mehr frei, als hätte ich kein Entscheidungsrecht mehr – obwohl mich niemand eingrenzt.“ Mutig gibt er seinen Fans den Abschied bekannt, um sich wieder selbst zu finden.

Doch dieses Phänomen betrifft alle Generationen. Seit 150 Jahren wird unsere westliche Industriekultur von einem zentralen Glaubenssatz geprägt: Du bist, was du in dieser Gesellschaft leistest! Wir sprechen in Firmen von Low-Performern, von A-, B- und C-Mitarbeitern.

Menschen, die wie Eier im Karton klassifiziert werden. Güteklasse 1. Oder eben 2. Was verdient mein Kollege, was verdiene ich? Wer fährt einen Smart, wer einen SUV? Das ständige Taxieren, Vergleichen, Einsortieren ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, das es uns meist gar nicht mehr auffällt.

Ohne es zu merken, lassen sich viele von uns von den inneren Antreibern bestimmen. Es sind die Glaubenssätze einer Industrie- und Dienstleistungskultur, die uns täglich anstacheln. Sie übernehmen über viele Jahre die Regie in unserem Leben. Bis es nicht mehr geht oder eine Pandemie den gesamten Globus zum Innehalten zwingt.

Ein Blick in den Schatten unserer Gesellschaft

Plötzlich wird bewusst, wie alles mit allem zusammenhängt, wie vernetzt wir leben. Wir blicken in den Schatten der Wohlstandsgesellschaft. Alltägliche Dinge, die sonst 24 Stunden global verfügbar waren, werden nun Mangelware. Teure Autos können nicht ausgeliefert werden, weil ein kleiner Chip fehlt. Küchen bleiben unvollständig, weil die Dunstabzugshaube oder die Spülmaschine monatelang nicht geliefert werden können. Spielwaren werden knapp, in den Druckereien fehlt das Papier, um Bücher und Zeitschriften zu drucken.

Preise steigen in ungeahnte Höhen. Plötzlich erleben wir Mangel in einer Kultur des Überflusses. Dieses Erlebnis macht vielen Menschen Angst. Manche reagieren irrational und fangen an, über dunkle Mächte nachzudenken, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Verschwörungserzählungen machen die Runde, wie früher Gruselgeschichten unter Kindern auf einer Klassenfahrt.

Die Medien spielen dabei eine zentrale Rolle und prägen unsere gesellschaftlichen Glaubenssätze. Sie geben häufig die Überzeugung des Mainstreams wieder und definieren, was politisch korrekt geglaubt werden soll oder darf. Mich erinnert das an einen frühen Werbeslogan der Bild-Zeitung: „Bild dir deine Meinung!“ Als ob die Boulevard-Zeitung dafür besonders geeignet wäre.

Wir brauchen neue Blickwinkel

Doch im Kern stimmt die Aussage. Ich verfolge deshalb jede Woche ganz unterschiedliche Medien, um die verschiedenen Standpunkte zu erkennen. Die Zeit, Der Spiegel und auch Die Welt zählen zur regelmäßigen Lektüre, außerdem unsere Regionalzeitung HNA. Hinzu kommen noch die heute-Nachrichten im ZDF. Wenn ich diese fünf Medien vergleiche, werden oft dieselben Themen behandelt. Doch jeder Reporter, jeder Bericht zeigt einen anderen Ausschnitt, einen neuen Blickwinkel. Ich bin dankbar für die Meinungsvielfalt, die auch meine Position infrage stellt. Mit jeder Meldung muss ich mich auch selbst überprüfen. Stimmt meine Glaubenssätze?

Mich erinnert das an den Film 8 Blickwinkel: Dennis Quaid und Matthew Fox spielen zwei Agenten des Secret Service. Sie sollen den US-Präsidenten bei einem Besuch in Spanien schützen. Zentraler Ort ist die faszinierende Plaza Mayor in Salamanca, deren Gebäude aus goldfarbenem Stein gebaut wurden. Der Film zeigt die Hintergründe eines Attentats aus der Perspektive von acht Figuren. Mit jedem Blickwinkel gewinnt der Zuschauer neue Informationen und kommt damit auch dem Rätsel auf die Spur: Wer steckt hinter dem Anschlag?

Für mich ist der Film eine anschauliche Metapher: Selbst, wenn wir alle am gleichen Ort sind und das gleiche Ereignis erleben, hat jeder einen anderen Blickwinkel. Deshalb bin ich überzeugt: Wir brauchen den öffentlichen Diskurs, in dem unterschiedliche Meinungen geteilt und publiziert werden.

Wir brauchen private und gesellschaftliche Räume, in denen offen diskutiert werden kann. Seit einem Jahr laden meine Frau und ich alle zwei Monate in einen Gesprächssalon ein: Im Gutshof Salon treffen zwei Experten und zwei Meinungen aufeinander. Jeder, der zuhört, kann dabei seine eigenen Überzeugungen überprüfen und vielleicht auch neue Sichtweisen gewinnen.