Seit Corona stecken wir in einer Vertrauenskrise. Unser gewohntes Leben mit Airbags, Gurt und Navi hat uns lange Zeit vorgegaukelt, wir hätten alles unter Kontrolle. Doch wer ehrlich ist, muss zugeben: Dies war nur eine Illusion.

Kontrolle
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Alles unter Kontrolle – wirklich?

Bis Dienstag hat mir unser BMW ein gutes Gefühl von Sicherheit vermittelt. Dann passiert es: Direkt nach dem Anlassen ein lautes unbekanntes Geräusch. Mir ist schnell klar, das Auto ist defekt. Der brummende Sound löst in Sekundenschnelle einen Vertrauensverlust aus. Komme ich damit noch zur Werkstatt? Gefährde ich andere?

In der Corona-Pandemie erlebe ich einen ähnliche Vertrauenskrise. In kurzer Zeit hat sich unser Leben mit Leitplanken und Vollkasko-Versicherung als Illusion erwiesen. Viele Glaubenssätze und Überzeugungen wurden außer Kraft gesetzt. Plötzlich müssen wir Virologen vertrauen, deren Namen wir noch nie gehört haben. Die angebliche Kontrolle ist nicht mehr da.

“Das Ungewisse ist von den Rändern unserer Aufmerksamkeit in ihr Zentrum gerückt”, schreibt “Die Zeit”: “Wo eben noch nichts unsicher sein durfte, scheint jetzt auf einmal fast alles unsicher zu sein.”

Der Vertrauensverlust bestärkt die Krise

Die neuseeländische Philosophin Annette Baier beschreibt es so: “Wir bewohnen ein Klima des Vertrauens, so wie wir in der Atmosphäre leben. Wir nehmen es wahr wie die Luft, nämlich erst dann, wenn es knapp wird.”

Diese Knappheit beobachte ich zu Beginn des Sommers, als wir uns mit langjährigen Freunden treffen: Wieviel Vertrauen, wieviel soziale Distanz ist angemessen? Bereits im Vorfeld diskutieren meine Frau und ich darüber, wie wir beide damit umgehen wollen, wenn uns plötzlich die Freunde umarmen wollen? Diese Frage wäre uns vor drei Monaten überhaupt nicht in den Sinn gekommen.

Was ist mit unserer Vorbildfunktion? Was ist klug in dieser Phase der Ungewissheit? Wir beide haben keine Angst, uns anzustecken. Gleichzeitig wollen wir keine Überträger sein und andere infizieren. Also Augen auf oder zu: Wird schon gut gehen? Kann ich mir selbst und meinen Gefühlen noch vertrauen?

Ich spüre ganz deutlich, dass ich durch die Medienberichte unsicher geworden bin. Oder ist alles gesammelte Wissen nur wieder ein Versuch, das ich die Kontrolle zurückgewinnen will?

Kontrolle – die unsichere Macht

Eine Szene aus meiner Kindheit: Meine Großeltern schicken mich alleine zwei Straßen weiter. Ich soll zu Pfeifers, einem kleinen Laden und dort in meine Kanne frische Milch abfüllen lassen. Mit großen Augen schaue ich sie an: Ganz alleine? In diesem Moment ist mir noch gar nicht klar, welches Vertrauen die beiden mir entgegen bringen. Der schafft das schon!

Der Philosoph Martin Hartman hat gerade ein neues Buch geschrieben: “Vertrauen – die unsichtbare Macht”. Sein Vater ist an Krebs gestorben, als er sieben Jahre alt war. Danach musste seine Mutter die drei Kinder alleine erziehen. “Was wollen wir vom Vertrauen?” fragt Hartmann – ich finde das eine spannende Frage.

Meine Mutter starb an Krebs – da war ich 11 Jahre alt. Ich war auf den Tod nicht vorbereitet, bei Verwandten, als die Todesnachricht kam. Das hat bei mir viel Vertrauen zerstört und ein Trauma ausgelöst, das ich noch Jahrzehnte später zu spüren bekam. Warum wurde ich weggeschickt? Warum durfte ich mich nicht von meiner Mutter verabschieden?

Offensichtlich hatte die mütterliche Familie und auch mein Vater nicht das Vertrauen, mir das zumuten zu können. Zugegeben: Ich war ziemlich sauer. Doch die Wut blieb lange in der Trauer versteckt und wurde erst viele Jahre danach in einer Trauma-Therapie offenbar.

Verlust der Kontrolle: Wenn die Sicherheiten wanken

“Alle wollen Vertrauen”, schreibt Martin Hartmann, “aber niemand will vertrauen.” Deshalb bauen wir unseren Alltag auf technische Sicherheit auf und lassen uns dies auch viel Geld kosten. Computer-Tomografie, Satelliten-Navigation, Handy-Empfang im ICE, Shopping mit Umtauschgarantie. Dazu steigendes Wirtschaftswachstum.

Plötzlich fangen unsere angeblichen Sicherheiten an zu taumeln: “Das Vertrauen in die Kontrollierbarkeit unserer Welteist ins Wanken geraten”, schreibt “Die Zeit”: “Es ist eigentlich kein Wunder, dass der Mensch, der meint keinen Gott, kein höheres Wesen zur brauchen, weil er sein Schicksal immer in den eigenen Händen hält, genau damit überfordert ist.”

Dann verweist das Wochenmagazin aus Hamburg auf ein Gedicht von Dietrich Bonhoeffer: “Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.”

Bewusst die Ungewissheit annehmen

Ich finde es spannend, dass die Journalisten der Zeit gerade jetzt auf einen Theologen verweisen: “Gottvertrauen mag in unserer modernen Welt wie die unwahrscheinlichste Form des Vertrauens aussehen, weil es sich auf etwas bezieht, was sich naturwissenschaftlich nicht beweisen lässt. Jemand, der auf Gott vertraut, wird in seinem Leben dennoch die Gegenwart von etwas spüren, das ihn hält und trägt.” Zitatende.

Was bedeutet Vertrauen in dieser Krise für mich? Zuerst muss ich anerkennen, dass ich nicht alles kontrollieren kann. Gleichzeitig muss ich mich entscheiden, meine inneren Unsicherheiten zu überwinden. “Entscheiden hießt nicht, zu wissen, bevor man handelt. Es heißt zu handeln, bevor man weiß”, so der Autor Marcus Jauer.

In diesem Sommer begegnen wir unsere Freunde mit einem herzlichen Lächeln und erleben eine sehr berührende Zeit. Gemeinsam stehen wir um das keltische Kreuz, das seit Juni neben der Kapelle steht. Es ist für uns ein Zeichen der Hoffnung, auch mit dem Ungewissen zurecht zu kommen. “Das Ungewisse ist das Leben selbst, und es zu leben”, so Jauer, “bedeutet, diese Ungewissheit anzunehmen.”

Auch die Ungewissheit um die Sicherheit unseres BMWs löst sich nach zwei Tagen in der Werkstatt auf. Ein kleiner Parkschein ist durch die Lüftungsschlitze gefallen und hat dort am Gebläse des Motors das laute Brummen verursacht. Wie bei Corona: Kleine Ursache, große Wirkung.