Ich liebe es, wenn ich ein Projekt erfolgreich abschließen kann. Aber es gibt auch Vorhaben in meinem Leben, die trotz aller Bemühungen misslingen. Ideen und Wege, die nicht zum Ziel führen, die nur halb gelingen. Spannend ist für mich die Frage: Wie viel Halbheit lasse ich in meinem Leben zu?

Halbheit
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Das Ideal der Halbheit

Eigentlich würde ich jetzt in der Alten Oper in Frankfurt sitzen, um mit meiner Frau einen schönen Theaterabend zu erleben. Stattdessen sind wir beide zuhause und versuchen unsere Gefühle einzuordnen. Es ist ein dreifacher Bandscheiben-Vorfall, der bei meiner Frau gerade alle Pläne torpediert. Statt Kultur gibt es starke Schmerztabletten und das Warten auf Genesung.

Der Buchautor Fulbert Steffensky hat einen Begriff gefunden, der sehr gut unser Dilemma beschreibt: Er nennt es “gelungene Halbheit”. Vieles im Leben gelingt nur halb. Gute Pläne müssen auf halber Strecke aufgegeben werden. Fast jeder kennt Urlaube, die nicht so erholsam sind, wie eigentlich erhofft oder erwartet wurde.

In der “Zeit” habe ich ein Zitat des verstorbenen Professors Henning Luther entdeckt: “Das Ideal der Vollkommenheit fasziniert uns. An ihm messen wir viel – unsere Leistungen und unser Leben.” Dann ergänzt Luther: “Leben als Fragment zu verstehen, soll vielmehr eine Befreiung sein, die uns von falschen Idealen erlöst.”

Was sind meine falschen Ideale?

Ich muss zugegeben, dieser Satz geht tief und ich überlege mir, wo lebe ich selbst nach falschen Idealen? Zwei große Sterne am gesellschaftlichen Horizont sind Gesundheit und Erfolg. Die Medien sind voll von Geschichten, die beiden Idealen huldigen. Sie fordern uns täglich auf, den inneren Schweinehund zu besiegen. Mehr Sport, gesunde Ernährung – aber auch Anti-Aging und Wellnessprodukte.

Unser Körper soll perfekt sein, um Höchstleistung zu bringen, wir sollen bis ins hohe Alter performen. Es ist ein schmaler Grat zwischen kluger Gesundheitsvorsorge und dem steigenden Druck nach immer höher, schneller, weiter.

Die Autorin Helga Schubert hat ein Stundenbuch der Liebe geschrieben. Darin beschreibt sie auch die Pflege ihres Mannes. “Plötzlich habe ich ja noch richtige Lebensaufgaben zu lösen”, schreibt Schubert: “Es geht nämlich um das Loslassen, das Annehmen, es um das Friedenschließen, das Einverstandensein, um nicht dauernd den andern, sich und das Leben Ändernwollen.”

Scheitern und Leere zulassen

Beim Nachdenken über diesen Satz überlege ich mir: Wie ehrlich gehe ich mit meinem eigenen Scheitern um? Der Unvollkommenheit in meinem Leben? Dazu ein praktisches Beispiel aus meinem Leben als Romanautor. Wenn Sie die Rezensionen zu meinen ersten drei Büchern lesen, finden Sie begeisterte Stimmen, aber auch Kritik. Besonders ärgerlich für mich: Leser, die im Buch noch Rechtschreibfehler finden.

Natürlich wünsche ich mir ein Buch zu veröffentlichen, das fachlich gut recherchiert und spannend geschrieben ist. Ein Buch, das die Leser berührt und das möglichst fehlerfrei ist. Bei jedem Band gebe ich Tausende von Euros für Profi-Germanisten aus, die das Buch lektorieren. Außerdem bitte ich 10 Testleser nach Fehlern zu suchen. Sie alle machen einen wirklich guten Job und finden nach den Profis immer noch etliche Fehler.

Doch so sehr ich mich mit allen Mitteln um Perfektion bemühe: Es bleiben Fehler, es gibt kein perfektes Buch.

Auch im Umgang mit anderen Menschen passieren mir Fehler. So sehr ich mich für Wertschätzung einsetze, kommen Worte doch nicht so an, wie ich es mir wünsche. Manche Beziehungen scheitern und hinterlassen eine große Leere. Es bleibt eine “Halbheit” in meinem Leben, mit der ich meinen inneren Frieden schließt muss.

Wenn Wünsche offen bleiben

Mein Vater hat über Jahrzehnte von drei großen Lebensträumen erzählt: Er wollte einmal im Leben das Matterhorn sehen, die Pyramiden von Gizeh und die Rocky Mountains. Als ich finanziell dazu in der Lage war, habe ich meinen Vater eingeladen, gemeinsam nach Kanada und nach Ägypten zu zu reisen. Mein Vater sah mich zuerst überrascht, dann glücklich an.

Nach kurzem Nachdecken sagte er ganz souverän: “Davon habe ich immer geträumt, aber ich brauche das nicht mehr.” Ganz offensichtlich hatte er seinen inneren Frieden mit der “Halbheit” und den unerfüllten Wünschen geschlossen. Darin ist er mir bis heute – auch Jahre nach seinem Tod – ein Vorbild.

Gleichzeitig freue ich mich, dass wir gemeinsam noch Zermatt besucht haben. Der Blick auf das Matterhorn – Vater und Sohn nebeneinander – zählt zu meinen emotionalen Highlights. Sicher auch deshalb, weil manch anderes eben nicht gelungen ist. Und ich mit dieser “Halbheit” meines Lebens meinen inneren Frieden schließen konnte.