Wie gut ist Ihre Intuition ausgeprägt? Wie stark vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl? Zum Beispiel jetzt vor der Bundestagswahl. Wie gut können wir Personen einschätzen? Lesen Sie dazu aktuelle Untersuchungen aus der Neurowissenschaft.

Intuition
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Ein verrücktes Wahljahr

In meinem Freundeskreis habe ich Anfang des Jahres eine persönliche Prognose abgegeben: Dieses Jahr bekommen wir einen bayerischen Bundeskanzlern und eine grünen Vizekanzler. Beide Einschätzungen waren falsch. Statt Söder wurde Laschet aufgestellt. Baerbock statt Harbeck. Offensichtlich hat mich meine Intuition in die Irre geführt.

Kein Wunder sagen Wissenschaftler wie Professor Oliver Sibony und Daniel Kahnemann die das Buch “Noise” geschrieben haben. “Unsere Intuition leitet uns viel häufiger fehl als das klar ist – und uns lieb sein kann.”

Na gut , denke ich und beobachte wie Olaf Scholz, einst abgeschlagener SPD-Kandidat, sich plötzlich in der Gunst der Wähler wie Phoenix aus der Asche erhebt. Irgendwie scheint in diesem verrückten Wahljahr alles möglich.

Wie verlässlich ist meine Intuition?

Bei meiner Recherche stoße ich auf Judit Polgar. Sie gilt als beste Schachspielerin der Welt. In einem Interview mit der “Zeit” berichtet sie über das Mittelspiel einer Partie. Es ist “groß und chaotisch. Wenn man da keine Intuition hat, ist man verloren.” Sie beschreibt, wie es zwischendurch auch für einen Profi wackelig aussehen kann.

“Es geht hier um ein tieferes Verstehen, das explizit zu machen sehr schwer ist”, so die Schachspielerin. Über viele Jahre habe ich geglaubt, Intuition sei so etwas wie die Königsdisziplin erfolgreicher Menschen. Doch seit zwei Jahren scheint mir dieses “Wissen, ohne wissen, woher”, wie “Die Zeit” es nennt, ein besonders fragiles Gut.

Mein derzeitiges Dilemma: Ich bin unsicher, wann und wo ich meiner eigenen Intuition wirklich noch trauen kann. Vielleicht haben Sie in den letzten Monaten ähnliche Erfahrungen gemacht und beobachten, dass sich durch die Pandemie unser persönliches Erfahrungsgedächtnis gravierend verändert hat.

Intuition entsteht durch Tausende von Schachpartien

“Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener”, hat Albert Einstein gesagt. Doch Neurowissenschaftler wie Sibony und Kahnemann widersprechen dieser These: “Unsere Intuition leitet uns viel häufiger fehl, als uns das klar ist – und uns lieb sein kann.”

Das passiert vor allem dann, wenn wir noch zuwenig eigene Erfahrungen – wie jetzt in der Pandemie – gemacht haben, auf die wir zurückgreifen können. Die Schachspielerin Judit Polgar stimmt den Wissenschaftlern zu: “Intuition ist förmlich kondensierte Erfahrung. Eine starke Intuition entsteht durch das Spiel und Studieren von Tausenden von Schachpartien.”

Wenn mir diese Erfahrung fehlt – so die Warnung von Sibony – sollte ich mich nur eingeschränkt auf meine Intuition verlassen. Der Forscher nennt drei Voraussetzung: “Wenn mein Umfeld vorhersehbar und regelmäßig ist.” Das gilt zum Beispiel beim Autofahren auf bekannten Strecken.

Zweitens: “Um mich auf meinen Bauch verlassen zu können, muss ich tatsächlich erfahren sein.” So wie eine Schachspielerin, die jahrelang ihr Metier erkundet hat. Drittens: “Die Konsequenzen meiner bisherigen Entscheidungen müssen mir bewusst sein.” Das bedeutet eine konkrete Überprüfung meiner intuitiven Entscheidungen. Haben sie wirklich gestimmt?

Ist meine Intuition nutzlos?

Zurück zu meiner falschen Wahlprognose. Hier kommt Harald Schoen ins Spiel, er ist Professor für politische Psychologie: “Bei der Wahl geht es erst einmal gar nicht um die Bewertung von Politikern, sondern um die Bewertung von anderen Personen – und die beherrschen wir Menschen ziemlich gut.”

“Die Zeit” hat ausgerechnet, dass für eine Expertise in Sachen Intuition “10.000 Stunden, etwa 412 Tage” an Lebenserfahrung notwendig sind. Die kann sicher jeder Wähler nachweisen, der in wenigen Tagen zur Wahlurne geht. Schließlich geht es auch um die Frage, ob Baerbock, Laschet oder Scholz als Person geeignet sind, das politische Mandat zu übernehmen.

Abschließend möchte ich noch einen Kritiker der beiden Wissenschaftler Sibony und Hahnemann zu Wort kommen lassen: Es ist der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Gerd Gigerenzer. “Menschen haben in langjähriger Erfahrung gute Intuition entwickelt. Doch wir leben zunehmend in einer Rechtfertigungsgesellschaft.”

Den Erfahrungsschatz von Ratgebern nutzen

Gigerenzer attestiert: “Immer weniger Führungskräfte sind bereit Verantwortung zu übernehmen.” Wir bewegen uns von einer Leistungsgesellschaft auf eine Absicherungsgesellschaft zu.” Für ihn ist der Ausspruch Einsteins vom intuitiven Geist als ein heiliges Geschenk immer noch aktuell. Allerdings betont er auch: “Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.”

Mein persönliches Credo: Ich glaube, wir müssen unsere langjährigen Erfahrungen wieder wertschätzen – gerade dann, wenn die Welt immer unvorhersehbarer wird. Mir persönlich hilft es, den Rat von anderen Menschen zu suchen, ihre Intuition zu nutzen. Personen, denen ich in bestimmten Bereichen mehr Kompetenz zutraue.

Aus diesem Grund treffen meine Frau und uns seit über zwanzig Jahren mit unterschiedlichen Ratgebern, die wie die Schachmeisterin über Tausende von Stunden eigene Erfahrungen gesammelt haben. Ihre Einschätzungen sind gerade in dieser Phase des gesellschaftlichen Wandels für uns ein unschätzbarer Wert.

Gleichzeitig hat jeder von uns auch in der Pandemie einen neuen Schatz von Erfahrungen erworben, die uns in künftigen Krisen sicher weiterhelfen werden.