Das gibt’s doch nicht: Beim Aufräumen finde ich eine braune Lederbox und weiß sofort, dass ich einen wertvollen Schatz gehoben habe. Meine Agfa Clack! Ich rieche am Leder und versuche, den Duft meiner Kindheit zu schnuppern. Das warme Braun der Hülle und die raue Haptik führen mich direkt ins Kino der guten Gefühle und zum eigenen Potenzial.

Potenzial
Foto: Alessia Chinazzo/Unpslash.com

Der Tanz von Licht und Schatten

Diese Szenen zählen zu den kostbarsten Momenten meiner Kindheit. Voller Glück und innerer Zufriedenheit. Ein wertvoller und wichtiger Teil meines Lebens. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich meine Leidenschaft für Fotografie wie diese Kamera jahrelang im Schrank verschlossen hatte. Warum ist diese sprudelnde Quelle meiner Kreativität versiegt? Ich nehme die Kamera und spüre einen tiefen Schmerz. Nachdenklich setze ich mich auf meinen Lieblingssessel ans Fenster. Was ist passiert, dass dieser kreative Schatz von mir so lange ungenutzt liegen blieb?

Als Berater begegne ich seit Jahren immer wieder Menschen, die zu uns auf den Gutshof kommen und mit Trauer von geplatzten Träumen berichten. Der Schmerz über das ungelebte Leben kann sehr tief sein. Ich erinnere mich an einen Vater, der so beschäftigt war, dass er die Jahre mit seinen Kindern verpasst hatte. Mit großer Trauer berichtete er mir, wie gern er diesen Fehler revidieren würde. Manche werden über die Jahre bitter, andere zynisch, um ihren Schmerz zu verdecken.

Nach zahlreichen Gesprächen bin ich überzeugt, dass viele Menschen über außergewöhnliche Begabungen verfügen, von denen in ihrem Freundeskreis niemand etwas ahnt oder weiß. Ich denke, dass auch heute Tausende von Künstlern unter uns leben, deren einzigartigen Talente im Verborgenen bleiben – vielleicht, weil sie selbst ihre Kreativität vergraben haben oder bewusst unter Verschluss halten. So wie ein Geist in der Flasche, von dem sie befürchten, er könnte, wenn er einmal herausgelassen wird, nicht mehr gebändigt werden.

Warum nutze ich mein kreatives Potenzial nicht?

Ich frage mich: Welche Ängste und Befürchtungen halten mich davon ab, mein kreatives Potenzial aus dem Schrank zu holen und an die frische Luft zu lassen? So wie meine alte Box-Kamera, die ich nach Jahren wiederentdeckte? Ich lade Sie ein, in dieses Spiel von Licht und Schatten einzutauchen. Nicht nur in der Fotografie, sondern auch in Ihrer eigenen Biografie. Durch den Blick in diesen Schatten entdecken wir Facetten unserer eigenen Persönlichkeit, die es Wert sind, ans Licht geholt zu werden.

Sie sind wertvolle Aspekte unserer Identität. Gleichzeitig erkunden wir mit jedem Blick in unsere Biografie einen weiteren Aspekt, der uns zeigt, wer wir wirklich sind. Was macht uns aus? Wozu sind wir geschaffen? Das ist für mich ein wichtiger Schritt zur Ganzheitlichkeit und zu einem authentischen Leben.

Lassen Sie mich kurz die Geschichte meiner Kamera weiterführen: Nach dem ersten Glücksgefühl vor dem Schrank setzte bei mir – mit etwas Verzögerung – auch ein tiefer Schmerz ein. Ähnlich wie beim Zahnarzt, wenn die Betäubung nachlässt. Plötzlich wurde mir das Loch bewusst, das die Kamera in meinem Leben symbolisierte.

Meine eigene Krise als Fotograf

Über viele Jahre war ich ein glücklicher und zufriedener Fotograf. Ich habe bereits mit 15 Jahren für die Schülerzeitung fotografiert, mit 18 Jahren meine erste Fotoausstellung in der Schalterhalle einer Bank eröffnet. Später habe ich Hochzeiten fotografiert, für Verlage gearbeitet, Kalender, Bildbände und CD-Cover gestaltet. Doch von diesem großen Portfolio war nichts mehr geblieben. 20 Jahre lag meine Leidenschaft für Bilder wie die alte Kamera verschlossen im Schrank. Ich spürte plötzlich das Loch, den tiefen Schmerz und war ziemlich frustriert.

Woher kam diese Leere, die mir bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst war? Dann fiel bei mir plötzlich der Groschen: Mit dem Thema Fotografie verband ich meine erste Frau Bettina. Bis zu ihrem Tod vor 24 Jahren hat uns die gemeinsame Leidenschaft für schöne Bilder verbunden. Wir sind rund um den Globus gereist, um mit großer Ausrüstung – damals eine große Linhof-6×17-Kamera und eine Rolleiflex 6008 – professionelle Mittelformatdias aufzunehmen. Doch diese Leidenschaft war mit dem schmerzhaften Abschied von Bettina ebenfalls untergegangen.

Ich schaute zum Fenster hinaus und dachte nach: Warum eigentlich? Plötzlich wurde ich sauer und spürte eine Wut in mir: Wie konnte ich zulassen, dass so eine wertvolle Begabung so lange vergraben blieb? Es hat einige Zeit gedauert, bis ich meine unterschiedlichen Gefühle benennen konnte: Da war meine langjährige Trauer um einen geliebten Menschen.

Was ist meine Leidenschaft?

Gleichzeitig fühlte ich aber auch den Schmerz um die Fotografie. Ich fing an, über das Wort Leidenschaft nachzudenken. Die Passion für Menschen und für außergewöhnliche Schwarz-Weiß-Fotos. Dabei wurde mir bewusst, dass ich „leide“ nicht mehr zu fotografieren. Ich vermisste diese sprudelnde Quelle meiner Kreativität, die zuvor so viele Jahre für innere Zufriedenheit und Glück in meinem Leben gesorgt hat.

Vor einigen Jahren habe ich auf der schottischen Insel Iona ein Buch entdeckt, das seitdem auf meinem Nachttisch liegt: Eyes of the Heart/Die Augen des Herzens. Christine Valters Paintner hat in Berkley promoviert und im Internet ein Kloster der Künste gegründet. Sie selbst nennt sich eine „Online-Äbtissin“. In ihrem Buch beschreibt sie Fotografie als eine Form der Kontemplation, und das finde ich als langjähriger Fotograf besonders spannend.

Zum ersten Mal bin ich bei ihr auf den Begriff des „goldenen Schattens“ gestoßen. Carl Gustav Jung bezeichnet damit unser verleugnetes kreatives Potenzial: Der goldene Schatten ist unsere unentdeckte Schönheit! Gleichzeitig ist er auch ein Schlüssel, um diese kreativen Schätze in unsere Persönlichkeit zu integrieren und das gesamte Potenzial zu nutzen.

Ein Blick in den Schatten der Kreativität

Als langjähriger Fotograf weiß ich: Gute Bilder brauchen Licht und Schatten, damit Kunst entsteht. Ohne den Schatten entstehen flache, mitunter auch langweilige Bilder. Erst durch den Kontrast zum Licht entsteht die künstlerische Spannung, die einzigartige Fotografien auszeichnet. Um das zu erkennen, habe ich viele Jahre gebraucht. Ich muss zugeben: Lange Zeit hat mich das Licht viel mehr fasziniert, als die Schatten anzuschauen. Doch dann habe ich mich an die Nächte im Fotolabor erinnert.

Als Teenager habe ich zuerst für eine Schülerzeitung fotografiert. Um das Taschengeld zu sparen, habe ich Filme in der Dunkelkammer selbst entwickelt. Je nachdem, wie frisch die Chemikalien waren und wie präzise ich den Timer stellte, waren die Filme eher flau oder kontrastreich ausgefallen. Sie können sich vorstellen, wie frustriert ich war, wenn wichtige Aufnahmen bei der Belichtung auf Fotopapier plötzlich langweilig aussahen – weil die Schatten fehlten.

Erst im Rückblick habe ich verstanden, dass das auch für mein eigenes Leben gilt. Ich muss mich dem Schatten stellen, die eigene Einsamkeit, den Frust erkennen. Erst, wenn mir bewusst wird, dass mir Kontrast fehlt, meinem Alltag wie bei einem flau belichteten Bild die Tiefe fehlt, kann ich etwas ändern und mein Potenzial nutzen.

Ein Foto knipsen – das kann doch jeder!

Wie häufig habe ich diesen Satz gehört. Jeder, der sich mit den Meistern der Fotografie beschäftigt hat, weiß, wie unsinnig diese Aussage ist. Im letzten Sommer habe ich einige Fotokurse auf dem Gutshof angeboten. Die Aufgabe war für alle Teilnehmer gleich: Mit dem Handy einen Gegenstand fotografieren, unterschiedliche Perspektiven ausprobieren.

Sie ahnen schon, wie unterschiedlich die Ergebnisse ausfielen. Alle haben Bilder gemacht, doch nur wenige Aufnahmen waren wirklich außergewöhnlich. Ein großes Aha-Erlebnis war für die Teilnehmer, als ich ihnen zeigte, welche Möglichkeiten sich im Schatten eines Gebäudes eröffnen. Wie reizvoll es sein kann, ein Gesicht oder einen Gegenstand so zu fotografieren, dass der Schatten das Bild bestimmt.

Ich lade die Teilnehmer ein, sich bewusst die Zeit zu nehmen, einen inneren Dialog zu führen. Es ist ein Gespräch zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, zwischen Licht und Schatten: Was willst du mir sagen? Da ist Nervosität und Unsicherheit, aber auch die tiefe Gewissheit, dass ein Teil in mir heil wird.

Dieser Prozess braucht Zeit. Wie im Alltag, wenn sie aus dem hellen Sonnenlicht in das Dunkel eines Hauses eintreten. Die Augen müssen sich erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Dann werden von Minute zu Minute immer mehr Details im Schatten sichtbar.

Ich ermutige Sie, mit meinem neuen Buch auf eine faszinierende Reise zu gehen: durch Ihre eigene Geschichte. Sie werden mit jeder Station eine neue Dimension Ihrer Persönlichkeit entdecken. Sicher werden Sie auch weitere Elemente Ihres Potenzials wahrnehmen, vielleicht Begabungen, die Sie bis heute noch gar nicht kannten.

Auszug aus meinem neuen Geschenkbuch “Der Goldene Schatten”