Knigge als Kunstwerk auf der documenta 13

Anna Prvacki (Los Angeles) und Rainer Wälde

Dienstagabend über den Dächern von Kassel: Mit einem Glas Aperitif in der Hand stehen wir neben dem Herkules und genießen den Blick auf die sommerliche Stadt. So herrlich leicht kann das Leben sein. Zumindest fühlt sich diese blaue Stunde am Ende eines heißen Tages so an. Es ist ein Abend rund um die Kunst:

Kassel bereitet sich auf eine neue documenta vor und wir sind Teil des Kunstwerks. Gemeinsam mit Anna Prvacki schulen wir eine Woche lang die Mitarbeiter der documenta.

Es geht um soziale Kompetenz, um Gastfreundlichkeit und um interkulturelles Miteinanderarbeiten. Zur großen Kunstschau werden über 750.000 Besucher aus aller Welt erwartet.

Authentisch kann auch ein Albtraum sein

Der Deutsche Knigge-Rat sorgt für die fachliche Kompetenz, die Künstlerin aus Los Angeles hat sich dieses lebende Projekt ausgedacht. Und so drehen sich die Gespräche dieses Abends um die Menschen aus Kassel und die große Welt der Kunst.

Ganz unerwartet spricht Anna Prvacki einen Satz aus, der die Runde zum Nachdenken bringt: „Authentisch kann auch ein Alptraum sein.“. Kurze Gedankenpause, dann steigt in mir sofort ein Bild aus sommerlichen Fußgängerzonen auf: Männer in kurzen Hosen mit weißen Socken und Sandalen. Vermutlich würden die Herren das „authentisch“ nennen, die begleitenden Partnerinnen sicherlich nicht.

Zeichensprache: Mal Kompliment, mal Beleidung

Oder Körpersprache: Daumen hoch – das deutsche „O. K.“. In  in Kassel ist es sicherlich ein stimmiges Zeichen, in anderen Kulturen dagegen die schlimmste Beleidigung, die jemand ausdrückenmachen kann. In diesem Kontext erscheint „Authentisch leben“ als Gleichung mit zwei Unbekannten: Wer bin ich? Und: Welche kulturelle Prägung hat mein Gegenüber?

Zuerst muss ich meine Persönlichkeit, meinen Stil, meine eigenen Lebensgeschichte wahrnehmen – dabei ist der Blick von außen hilfreich, um eine realistische Einschätzung zu bekommen. Dann kommt mein Gegenüber: Auch er hat seinen individuellen Stil und seine kulturelle Prägung.

Jeder von uns ist einzigartiges Kunstwerk

Vermutlich haben wir beide eine ganz eigene Auffassung davon, was „authentisch“ für uns ist. Das Benehmen, das für den einen stimmig erscheint, erlebt der andere als Zumutung. Vor diesem Auf diesem Hintergrund erscheint das Zitat von Anna Prvacki als große Herausforderung. In diesem Sommer nicht nur auf der documenta in Kassel – sondern überall dort, wo Menschen sich als einzigartige „Kunstwerke“ begegnen. Ich freue mich sehr, dass wir als Knigge-Experten gebucht wurden und bin gespannt auf die nächsten Aufträge.