Dieses Bild werde ich nie vergessen: Donald Trump schiebt auf dem Nato-Gipfel den Premierminister von Montenegro beiseite, um selbst in der ersten Reihe zu glänzen. Der mächtigste Mann der Welt lebt vor, was viele Eltern bei ihren Kindern tadeln würden.

Foto: shutterstock

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Wir basteln zu viel am Ego und viel zu selten am Wir

Nach meiner Ansicht hat Anstand sehr viel mit mir selbst und meinem Wertsystem zu tun: “Achte den anderen höher als dich selbst” – diese Empfehlung steht bereits im Neuen Testament als Anleitung für ein gutes Zusammenleben.

Anstand bedeutet für mich persönlich: Ich respektiere mein Gegenüber und zeige ihm das auch. Gleichzeitig nehme ich mich selbst nicht so wichtig.  Doch in der aktuellen Ego-Kultur scheinen diese Tugenden mitunter verloren gegangen. Als Leitstern glänzt immer mehr: Ich, mir, meiner, mir!

Doch eine gesunde und intakte Gesellschaft kann nach meiner Erfahrung nur durch ein funktionierendes “Wir” überleben. Wir sind nicht allein auf dieser Welt und brauchen den Anderen, um in der Beziehung vom Ich zum Du uns selbst zu definieren.

Knigge Anstand: Vom Leben im Dorf lernen

Vor wenigen Tagen haben meine Frau und ich die Eröffnungsfeier der Gutshof Akademie gefeiert. Über 1.000 Besucher waren da und haben das Wochenende miterlebt. Das alles war nur möglich, weil sich viele Menschen aus dem Dorf ehrenamtlich engagiert haben: Kuchen gebacken, Tische gestellt, Zelte aufgebaut und Würstchen gebraten.

Ohne dieses starke “Wir” wäre so ein großes Ereignis nicht möglich. Doch was hat das mit Anstand zu tun? Ganz einfach: Jeder bringt sich mit seinen Gaben ein, jeder packt zu und unterstützt den anderen.

Was meine Frau und mich besonders berührt hat: Nachdem alle Besucher den Hof verlassen haben, packten alle wieder mit an: Innerhalb von 90 Minuten waren Zelt und Bänke wieder abgebaut, der Müll gesammelt, der Hof aufgeräumt. Das ist eine Form von “Anstand”, die auch weitere Events möglich macht: Wir feiern gemeinsam und wir arbeiten gemeinsam.

Welche Auswirkungen hat mein Verhalten?

Zurück zu Donald Trump: Als Knigge-Experte frage ich mich, wie dieses Bild auf unsere Gesellschaft wirkt? Ein Präsident, der sich selbst in die erste Reihe drängt, ist kein Vorbild, sondern einfach nur peinlich.

Kürzlich hat sich auch “Die Zeit” (Ausgabe 35) mit diesem Thema beschäftigt und schreibt: “Es schwappt seit einer Weile nicht bloß eine Woge der Anstandslosigkeit um die Welt – es tobt ein Ozean.” 

Dann liefert sie eine ganze Auflistung: Vom sogenannten Shitstorm, den manche Prominente über sich ergehen lassen müssen – bis hin zum ruppigen Ton in sozialen Netzwerken: “Die Beleidigungen und Lügen, die dort Alltag geworden sind – man hat sich daran gewöhnt.”

Doch ich will mich nicht daran gewöhnen! Deshalb leite ich seit Jahren die Ausbildung zum Knigge-Trainer.

Jeder Einzelne macht einen Unterschied

Bereits 1788 hat sich Adolph Freiherr von Knigge mit dem Anstand beschäftigt: In seinem berühmten Buch “Über den Umgang mit Menschen”, das zwar häufig erwähnt, aber meist nicht gelesen wird.

Knigge formulierte: “Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind. Das heißt ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei dabei zum Grunde liegen.”

Ich mag diesen Begriff von “Weltklugheit”, den Knigge benutzt und wünschte mir, dass öffentliche Vorbilder mehr diese Form des Anstandes leben würden. Gleichzeitig ist mir bewußt: Es fängt bei mir an.

Als Chef muss ich meinen Mitarbeitern vorleben, was ich von ihnen erwarte

Nur wenn ich als Führungskraft das vorlebe, was ich mir von meinen Mitarbeitern wünsche, bin ich als Chef glaubwürdig und authentisch. Das ist eine tägliche Herausforderung, die im Kleinen anfängt.

Dazu braucht es nach meiner Erfahrung auch Demut: Zu den eigenen Fehlern stehen, zugeben, wenn ich selbst Mist gemacht habe. Anstand fängt häufig mit einer Entschuldigung für mein eigenes Versagen an.

Anstand in den sozialen Netzwerken

Ein konkretes Beispiel: Ein Bekannter von mir ist TV-Korrespondent in Berlin und wird zum Bundespresseball eingeladen. Stolz postet er bei Facebook ein Foto, ein Selfie getreu dem Motto: “Ich und der Bundespräsident”.

Aus dem Affekt schreibe ich einen humorvollen Kommentar zu seiner Bekleidung, die nun gar nicht zum hochkarätigen Anlass passt. Sekunden nachdem ich meine Zeilen gepostet habe, wird mir klar, wie mein kleiner Beitrag wirken kann: Der “Vorsitzende des Deutschen Knigge Rates” tadelt öffentlich einen bekannten Fernsehjournalisten.

Ich ahne schon, wie manche Kollegen diesen Kommentar als Ohrfeige empfinden und lösche wenige Augenblicke später wieder meinen Eintrag. Sie merken an diesem Beispiel, wie schnell eine unbedachte Bemerkung ihre Kreise ziehen kann.

Tiefes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit

Die eigene “Performance”, das “Sich-selbst-erhöhen” steckt nach meiner Beobachtung in jedem von uns. Wir wünschen uns Aufmerksamkeit: Jeder von uns will gesehen werden, wünscht sich Menschen, die ihm zuhören. Das ist ein ganz wichtiger Teil unserer Identität. Nur durch die Rückmeldung, den Austausch können wir als soziale Wesen überleben.

Der Schriftsteller Axel Hacke hat ein Buch “Über den Anstand” geschrieben: “Anerkennung, Rücksicht, Wohlwollen, Freundlichkeit, Interesse, Zugewandten und jene Solidarität, die Grundlage dessen ist, was wir den menschlichen Anstand nennen könnten.”

All das ist eine Aufgabe jedes Einzelnen und damit eine Sache von uns allen.