Mein Kunde ist im Gesundheitswesen aktiv und leitet ein Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern. Da ihm das Thema Knigge besonders wichtig ist, lädt er mich zu einem Training für seine Führungskräfte ein. Er wählt ein edles Sterne Restaurant, ordert sieben Gänge und erlesene Weine. Und erlebt dann selbst den peinlichen “Knigge-Gau” zwischen öffentlichem Messer-Abschlecken und obszönen Tischgesprächen.

Foto: shutterstock

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Wenn sich der Chef für die eigenen Führungskräfte schämt

“Ein Fall für Wälde”, hat sich der Chef wohl gedacht, als er für dieses Event bucht. Als Knigge-Experte soll ich richten, was in der familiären Kinderstube offensichtlich schief gelaufen ist. Ihm ist aufgefallen, dass einige seiner Top-Führungskräfte gerade in ihrer Vorbildfunktion für die 1.000 Mitarbeiter patzen.

Alle Teilnehmer sind qualifizierte Geschäftsführer, gut im Verkaufen, verhandlungssicher und auf erfolgreiche Abschlüsse geeicht. Doch auf dem gesellschaftlichen Parkett der Umgangsformen kommen sie immer wieder ins Straucheln.

Welchen Stellenwert genießt die soziale Kompetenz?

Seit dreißig Jahren bin ich als Knigge-Trainer aktiv und habe in unzähligen Firmen die Mitarbeiter geschult und selbst einige hundert Knigge-Trainer ausgebildet. Das Feedback, das ich immer und immer wieder von den Mitarbeitern im Seminar erhalte: “Mir ist klar, wie wichtig gute Umgangsformen sind – aber sagen Sie das mal meinem Chef!”

Das Problem: Meist fehlen die Vorgesetzten bei diesen Seminaren – getreu dem Motto: Das ist nur was für meine Indianer! Oder wie ein hochrangiger Bankvorstand mir einmal unter vier Augen erklärte: “Derartige Veranstaltungen sind für mich reine Zeitverschwendung!”

Woran liegt es, dass viele Vorgesetzte Knigge für überflüssig halten?

Ich persönlich denke, dass dies eine Spätfolge der 68er-Generation ist: Für die Nachkriegsgeneration galt gutes Benehmen als überholt und spießig. Deshalb verpassten etliche Eltern die Chance, ihren Kindern zuhause auch die gesellschaftlichen Umgangsformen beizubringen.

Hinzu kommt, dass mit zunehmender Führungsebene das Thema “Knigge” als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Wer sich durch schlechtes Benehmen auffällt und auf diesem Parkett patzt, bekommt meist keine ehrliche Rückmeldung. Viele Chefs erfahren nicht, dass hinter ihrem Rücken negativ über sie gesprochen wird.

Mein Plädoyer: Offen über Schwächen sprechen

Ich weiß, wie schwer es vor allem Männern fällt, über ihre Schwächen zu sprechen – vor allem dann, wenn sie in Führungsverantwortung sind. Doch heute möchte ich Sie einladen: Fordern Sie von Ihren Mitarbeitern ein ehrliches Feedback ein.

Bitten Sie – unter vier Augen – Ihre engsten Mitarbeiter, Ihnen eine Rückmeldung zu Ihrem persönlichen Auftreten zu geben und nutzen Sie diese Chance, sich auch in diesem Bereich weiterzuentwickeln. Seien Sie ehrlich zu sich selbst und geben Sie offen auch Schwächen in diesem Bereich zu. Ich bin sicher: Sie gewinnen dadurch an Glaubwürdigkeit bei Ihren Mitarbeitern.

Niemand ist perfekt, das erwartet auch niemand. Aber gerade in der sozialen Kompetenz können viele Chefs sicher noch dazulernen und durch Ehrlichkeit punkten.

Ehrlichkeit auch im Deutschen Knigge Rat

Gestern hat sich der Deutsche Knigge Rat zu seiner 23. Sitzung getroffen. Insgesamt 14 Experten gehören zu diesem Gremium, jeder einzelne kompetent in seinem Bereich. Doch niemand in diesem Kreis – mich eingeschlossen – weiß alles und kann alles.

Mich begeistert, wie auch authentisch auch meine Kolleginnen und Kollegen im Knigge-Rat über ihre Zweifel sprechen und offen zugeben, wo sie Defizite empfinden. In dieser Runde fällt niemand ein “Zacken aus der Krone”, wenn er eigene Schwächen anspricht.

Ganz offen diskutieren wir über große gesellschaftliche Fragen und sprechen über kleine Alltagsthemen: Wie isst man einen Hamburger? (Mit Messer und Gabel) Oder darf man beim Cappuccino den Milchschaum löffeln? (Ja)

Das große Missverständnis: Knigge bedeutet starre Regeln

Manches Mal denke ich: Adolph Knigge würde sich im Grab herum drehen, wenn er wüsste, was aus seinem Namen gemacht wurde. Die meisten Menschen – so meine Beobachtung – verbinden mit ihm starre Etikette-Regeln.

Doch Adolph Knigge ging es in seinem 1788 erschienen Buch “Über den Umgang mit Menschen” um etwas ganz anderes: Die Herzenshaltung. Strenge Etikette hat ihn nicht interessiert, vielmehr die innere Haltung des Menschen: Dem anderen Wertschätzung und Respekt zu zeigen.

Und damit bin ich bei meiner Eingangsfrage: Wieviel Knigge braucht ein Chef? Nach meiner Meinung: Sehr viel! Natürlich muss ich die Regel kennen, aber ich muss auch den Mut aufbringen, in den richtigen Situationen diese Regeln zu brechen, damit mein Kunde, mein Mitarbeiter keine Scham oder Peinlichkeit empfindet.

Auf die Herzenshaltung kommt es an

Vor wenigen Tagen habe ich wieder acht neue Knigge-Trainer ausgebildet und ihnen die Geschichte vom spanischen König erzählt, der bei einem Staatsempfang mit einer heiklen Situation konfrontiert wurde: Ein Präsident war bei ihm zu Gast.

Es gab Fingerfood und deshalb auch für jeden eine Fingerbowle. Nach der Begrüßungsrede nahm der Gast die Wasserschale und trank sie leer. Geistesgegenwärtig ergriff auch der König seine Fingerbowle und rettete damit die peinliche Situation.

Diese Geschichte ist für mich ein Paradebeispiel für die richtige Herzenshaltung, von der Adolph Knigge schreibt. Natürlich kann es mir passieren, dass beim Essen etwas schief läuft – entscheidend ist, wie ich mit der Situation umgehe.

Wenn Knigge keinen interessiert

Zurück zu meinem Kunden, der ein Seminar für seine Führungsmannschaft gebucht hat. Vier Stunden sitzen die Geschäftsführer mehr als gelangweilt vor mir. Selbst praktische Rollenspiele und viele humorvolle Beispiele können sie nicht aus der Reserve locken. Sie signalisieren mir ganz klar: Das Thema Knigge interessiert uns nicht.

Dann das Gala-Menü: Luxeriöses Essen, erlesene Weine. Diskret beobachte ich die Führungskräfte und wundere mich, wie schnell ihr Tischgespräch in eine sexistische Diskussion übergeht. Die Art und Weise wie diese Herren über Frauen urteilen und obszöne Sprüche klopfen, passt überhaupt nicht in diesen festlichen Rahmen.

Was Hänschen nicht lernt…

Ich vermisse auch den Respekt gegenüber dem Gastgeber und Gründer dieses Unternehmens, der diesen Gala-Abend organisiert hat. Beim Hauptgang dann die Krönung: Mein Nachbar, Mitte Vierzig schleckt genußvoll in dieser Männerrunde die Messerklinge von oben nach unten ab. Das ist der Moment in dem auch ich resigniere.

In dieser Runde scheint alle Liebesmüh umsonst. Das Knigge-Thema wäre wichtig, keine Frage – der Gründer hat das Problem erkannt. Leider lässt sich bei soviel Desinteresse der Teilnehmer nicht wirklich etwas verändern. Das sind die Tage an denen ich selbst als “alter Hase” unzufrieden nach Hause fahre und mein Honorar als Schadensersatz ansehe.

Doch Gott sei Dank ist dies die Ausnahme und ich kenne genügend Chefs, die großes Interesse für eine kultivierte Tischkultur signalisieren. Ihnen ist es wichtig, den Mitarbeitern mit gutem Beispiel voranzugehen, damit diese auch den Kunden authentisch und stilvoll begegnen.

Nun bin ich neugierig auf Ihre Erfahrungen: Schreiben Sie mir einen kurzen Kommentar…