Bei Gerald Hüther, dem bekannten Gehirnforscher bin ich auf den Begriff der „Loving Kindness“ gestoßen. Eine Fähigkeit, die auf den ersten Blick etwas befremdlich klingt. Was verbirgt sich hinter diesem liebevollen Umgang mit mir selbst?

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Was brauche ich ich für ein glückliches Leben?

Zugegeben: Meine Eltern – beide Kriegsgeneration – hätten mir den Vogel gezeigt, wenn ich von „Selbstliebe“ gesprochen hätte. Nach kurzem Nachdenken hätten sie vielleicht eine Schwarzwälder Kirschtorte genannt. Süße Lust – als Kompensation für harte Arbeit und langjährige Entbehrung. Wer im Krieg mit Hunger und Entbehrung gekämpft hatte, nahm den Konsum als willkommene Ersatzbefriedigung.

Für Gerald Hüther ist „Loving Kindness“ dagegen etwas naturgegebenes: „Alles, was sie für ein glückliches und gelingendes Leben brauchen, bringen unsere Kinder ja schon mit auf die Welt.“ In dem neuen Buch Future Skills schreibt er: „Ihre unglaubliche Entdeckerfreude und Gestaltungslust, ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Verbundenheit, ihre ansteckende Lebensfreude – all das braucht niemand zu wecken oder fördern.“

Doch das Dilemma, das viele Kinder erleben: Bei mangelnder Förderung im Kindergarten oder der Schule geht der liebevolle Umgang mit mir selbst schnell verloren. Stattdessen müssen viele erst lernen, wie sie den Erwartungen von anderen gerecht werden.

Loving Kindness fördert die Kreativität

Zu den frühen Erinnerungen meiner Kindheit im Breisgau gehören die wöchentlichen Zugfahrten mit meiner Mutter nach Freiburg. In der Nähe des Bahnhofs brachte sie mich zu einer „Erziehungsberatungsstelle“ der Caritas. Ganz offensichtlich waren meine Eltern mit meiner Kreativität und hohen Sensibilität stark überfordert, dass sie keinen anderen Weg sahen.

Zugegeben: Für mich klang schon der Name der Einrichtung nach „schwer erziehbar“. Doch in meinem emotionalen Gedächtnis habe ich diese wöchentlichen Termine als die glücklichsten Stunden meiner Kindheit gespeichert. Ich fühlte mich als kreativer Junge erkannt, gefördert, bestärkt und ermutigt. Die Botschaft: Du bist ok, so wie du bist. Lass raus, was in dir steckt. Halte deine Begabung nicht zurück.

Diese wöchentliche Förderung hat meine Identität gestärkt und mir innere und äußere Freiräume geöffnet. Als meine Mutter starb war ich gerade 11 Jahre alt. In den ersten beiden Jahren der Trauer habe ich gefuttert, was ging, um meinen Schmerz zu kompensieren. Doch dann hat mir die Gabe der Kreativität geholfen, neue Formen zu finden: Die Fotografie wurde für mich zu einem wichtigen Ausdruck.

Doch die eigentliche Form der Trauerverarbeitung wurde das Schreiben. Mit 14 Jahren gründete ich mit einigen Schulkameraden eine Schülerzeitung. Mit dem „Sandkorn“ wollten wir Sand in das Bildungsgetriebe streuen. Ich musste lernen, meine Meinung auszudrücken, um kritische Artikel zu formulieren. Bereits als 16jähriger startete ich als junger Theaterkritiker. Eine Germanistikstudentin wurde zur Mentorin und half mir dabei, noch pointierter und schärfer zu argumentieren.

Loving Kindness als Voraussetzung für ein gelingendes Leben

Gerald Hüther ermutigt jede Gelegenheit zu nutzen, um mit diesen Bedürfnissen wieder in Berührung zu kommen: „Mit ihrer ursprünglich einmal vorhandenen Entdeckerfreude. Oder mit ihrer Gestaltungslust, mit ihrer Sinnlichkeit, ihrer Offenheit und ihrem Einfühlungsvermögen.“

Wie das geht, zeigt die bekannte Tatort-Kommissarin Adele Neuhauser in ihrem neuen Film „Faltenfrei“. Sie spielt eine erfolgreiche Unternehmerin, die an ihrem Geburtstag einen Super-Gau erlebt: Der Mann verlässt sie, die Mitarbeiterin betrügt sie, der Verleger erklärt sie als zu alt. In der Schönheitsklinik hofft sie ihr, das erfolgreiche Leben zurück zu gewinnen und scheitert.

Mühsam muss sie lernen, was es heißt sich „wieder als Gestalter seines eigenen Lebens zu spüren“ – wie Hüther es ausdrückt. Statt pausenlos ihre Leistung zu optimieren, bleibt ihr nichts übrig als Innezuhalten, still zu werden. Nichts mehr zu tun, was ihr selbst nicht gut tut. „Das ist das Geheimnis aller glücklichen und gesunden Menschen.“