Raiffeisen zählt zu den erfolgreichsten Personenmarken in Europa. In diesem Jahr feiert eine kleine Gruppe seinen 200. Geburtstag. Doch die Mehrzahl der von ihm begründeten Banken scheinen sich eher für die provinzielle Herkunft zu schämen. Woran liegt das?

Raiffeisen Kampagnenbild

Eine Kindheit in Armut

Mich begeistert die Geschichte von Friedrich Wilhelm Raiffeisen bereits seit 10 Jahren: Seine Biografie war für mich ein Augenöffner, der meine Weltsicht dauerhaft verändert hat. 1818 wird Raiffeisen in Hamm an der Sieg geboren, einer kleinen Gemeinde im Westerwald. Seine Kindheit ist von Geldnot geprägt: Hunger und Arbeitslosigkeit veranlassen Millionen von Menschen zur Auswanderung.

Raiffeisen ist 26 Jahre alt, als die Weber in Schlesien wegen der Arbeits- und Lebensbedingungen einen Aufstand wagen. Das Militär beendet die Revolte, doch die Lunte der gesellschaftlichen Armut bleibt gezündet. Friedrich Wilhelm Raiffeisen übernimmt Verantwortung. 1845 wird er Bürgermeister in Weyerbusch und sucht als engagierter Christ nach praktischen Lösungen: Damit die Waren aus dem Westerwald leichter über die Handelswege am Rhein verkauft werden können, engagiert er sich für den Bau einer Straße.

Raiffeisen packt an und gründet

Doch die Not wird immer größer: Ein Jahr nach Raiffeisens Wahl vernichtet die Kartoffelfäule das Saatgut. Zudem fällt im August Schnee im Westerwald, die Ernte wird entsprechend mager. Jetzt explodieren die Preise für Lebensmittel. Friedrich Wilhelm Raiffeisen packt an und gründet einen Brotverein, der zuerst Lebensmittel an die Armen verteilt, später dann Kartoffeln und Saatgut. Auf seine Initiative wird das erste Gemeindebackhaus errichtet – damit ist die genossenschaftliche Idee geboren.

Während 1848 Marx und Engels ihr Kommunistisches Manifest veröffentlichen, wird Raiffeisen Bürgermeister von Flammersfeld. Die sozialen Spannungen führen zu weiteren Aufständen in Europa. Der Lokalpolitiker Raiffeisen wird zum Sozialreformer und gründet einen Verein, um verarmte Landwirte mit einem Kredit aus der Elendsspirale zu holen.

Raiffeisens Welt ist in einem starken Wandel

Durch die Fortschritte in Technik und Wissenschaft verwandelt sich die bäuerliche Argrarkultur in eine Industriegesellschaft. Raiffeisen beobachtet, wie immer mehr Kinder verwahrlosen, und gründet einen Wohltätigkeitsverein, der sich um ihre Erziehung kümmert. Arme Bauern werden mit Vieh versorgt, Bedürftige mit Krediten und entlassene Sträflinge mit Arbeitsplätzen.

Die „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist ein zentraler Gedanke, den Friedrich Wilhelm Raiffeisen geprägt hat und der bis heute in Entwicklungsländern durch Kleinkredite praktiziert wird. Doch der Reformer aus dem Westerwald geht noch einen Schritt weiter und gründet genossenschaftliche Darlehnskassen. Wer einen Kredit braucht, muss Mitglied werden.

Diese Solidargemeinschaften sind das Herzstück von Raiffeisens Konzept und bis heute untrennbar mit seinem Namen verbunden. 1866 geht er aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand und schreibt seine Idee auf: Das Raiffeisen-Buch sorgt für Multiplikation: Nach vier Jahren sind bereits 75 genossenschaftlich organisierte Vereine gegründet.

800 Millionen Menschen nutzen Genossenschaften

Friedrich Wilhelm Raiffeisen denkt weiter und zählt in seinem Werk auch andere Bereiche auf, die sich für eine Genossenschaft eignen: Milchwirtschaft und Weinbau, Lebensmittelhandel und Viehversicherung. Nach seiner Idee werden landauf, landab Konsum- und Winzergenossenschaften gegründet. Heute schätzt man, dass weltweit 800 Millionen Menschen in Genossenschaften organisiert sind.

Am 11. März 1888 stirbt Raiffeisen im Westerwald kurz vor der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Bonn, die nach ihm benannt wird. Auch nach seinem Tod bleibt der Name „Friedrich Wilhelm Raiffeisen“ eine starke Personenmarke: Zahlreiche Schulen, Straßen, Banken und Märkte werden nach ihm benannt. Die Wikipedia listet heute 330.000 Unternehmen mit seinem Namen auf. Bei Google finden sich über fünf Millionen Einträge.

2018 gibt es allen Grund zu feiern

Nun gibt es im Raiffeisenjahr 2018 genügend Grund zum Feiern. Ein rühriger Verein hat zu „Mensch Raiffeisen“ eine Jubiläumsseite ins Netz gestellt. Bundespräsident Frank Walter Steinmaier hat die Schirmherrschaft für das Jubiläumsjahr übernommen.

Im März 2018 hat er das Raiffeisenhaus in Flammersfeld besucht. Er sagte: „Wir erinnern nicht nur an Raiffeisen, sondern auch an die Genossenschaftsidee, die daraus entstanden ist und die weltweit Unterstützung und Nachahmer gefunden hat. In nahezu allen Kontinenten ist Raiffeisen heute bekannt und es wird Beispiel an ihm genommen.“

Raiffeisenhaus in Flammersfeld

Die Idee Raiffeisens wird heute noch gebraucht

Ich hoffe, dass auch die Genossenschaftsbanken erkennen, welchen Schatz sie in ihrem Gründer haben: Im Zeitalter des digitalen Storytelling könnte man zahlreiche Geschichten aus 200 Jahren erzählen, die für die Kunden heute noch relevant sind. Die historischen Beispiele aus dem Westerwald und die weltweiten Auswirkungen würden auch heute noch Identität und Sinn stiften.

Ich bin überzeugt, dass von den 30 Millionen Kunden und den 18 Millionen Genossen der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken viele stolz auf ihren Gründer wären, wenn sie mehr über sein Leben erfahren würden.

Zurück zum Bundespräsidenten: Die Genossenschaftsidee nannte Steinmeier „großartig“. Gott sei Dank sei sie nicht auf den landwirtschaftlichen Bereich beschränkt geblieben. Er sei „überzeugt davon, dass dieses eine Idee ist, die nicht etwa 200 Jahre alt und deshalb veraltet ist, sondern die heute so gebraucht wird, wie vor 150 und 200 Jahren.“

Meine Best-Practice-Tipps:

  • Social Responsibility: In welchem Bereich können Sie in Ihrer Region die Hilfe zur Selbsthilfe fördern?
  • Scheuen Sie nicht das Provinzielle: Entwickeln Sie einen gesunden Stolz auf Ihre heimatlichen Wurzeln.
  • Stärken Sie Ihre regionale Vernetzung: Suchen Sie aktiv nach lokalen „Leuchttürmen“ und kooperieren Sie mit diesen Unternehmen.