Der Krieg in der Ukraine löst bei vielen Menschen Ohmachtsgefühle frei. Plötzlich spüren, wir wie fragil unsere Welt geworden ist. Seit zwei Jahren schwindet das vertraute Leben. Jetzt spüren wir umso mehr, wie verletzlich die gewohnte Heimat ist.

Dreharbeiten in Matamata/Neuseeland

Spaltet sich unsere vertraute Welt?

Im Februar vor acht Jahren war ich mit meiner Frau am Filmset von “Herr der Ringe” in Neuseeland. Ein pfiffiger Farmer, dem das Land gehört, auf dem die Szenen im “Auenland” gedreht wurde, hat sich die Rechte gesichert, dort Touren anzubieten.

Für uns beide war es eine interessante Zeit – zum einen dort Szenen für einen Dokumentarfilm über Neuseeland zu drehen. Zum anderen, um uns in die Phantasiewelt von Frodo und Sam einzufühlen, die von den Filmemachern mit sehr viel Liebe zum Detail ausstaffiert und inszeniert wurde.

Gestern bin ich in der “Welt zum Sonntag” wieder über das Auenland gestolpert: Der bekannte Psychologe Stephan Grünewald vom Rheingold Institut in Bonn vergleicht Deutschland mit dem Auenland. Durch den Krieg mit der Ukraine offenbart sich eine Spaltung: Einerseits in das Auenland und anderseits in das Grauenland.

Grünwald hat zu Beginn der Pandemie ein Buch geschrieben: “Wie tickt Deutschland”. Darin nutzt er bereits dieses Bild. “Das letzte Jahrzehnt war durch eine Bundeskanzlerin gekennzeichnet, die als “Mutter Merkel” als oberste Wächterin des deutschen Auenlands fungierte”; so Grünewald in einem Interview mit der Konrad Adenauer Stiftung.

Wir erleben eine große Zeitenwende

“Mit deutschem Auenland meine ich ein Gefühl, dass Deutschland eines der letzten Paradiese ist: Wir haben eine halbwegs intakte Gesundheitsversorgung, eine florierende Wirtschaft und niedrige Arbeitslosenzahlen.” Ich finde diesen Gedanken von Grünewald sehr spannend. Er bezieht sich auf eine satte Genügsamkeit, die den Status quo für die Normalität hält.

Doch der Krieg in der Ukraine zeigt überdeutlich, was wir schon während der Pandemie erlebt haben: Wir sind in einer großen Zeitenwende. Die gesamte Welt ist im Umbruch – und das schon seit Jahren. Doch am liebsten würde wir an der alten vertrauten Welt festhalten, unserem geliebten “Auenland”. Doch das geht nicht, wir müssen in das Neue aufbrechen.

“Jetzt erleben wir zum ersten Mal, dass das Grauenland ins Auenland einbricht”, so Stefan Grünewald. Die Bilder, die wir in den Medien derzeit sehen, setzten wie eingangs beschrieben, bei vielen Menschen Ohnmachtsgefühle frei. Ein Gefühl, das niemand von uns mag. Die spannende Frage, die ich mir stelle: Wie kommen aus dieser Ohnmacht wieder heraus?

Haben wir den inneren Kompass verloren?

Meine Frau und ich beobachten, dass sich viele Menschen in einer Orientierungskrise befinden. Das bestätigt auch Stefan Grünewald: “Wir haben den inneren Kompass verloren, wir wissen nicht mehr, was programmatisch richtig und wichtig ist.”

Hinzu kommt noch eine “Wertschätzungskrise”. Viele Bürger, die ihre Geld zur Bank bringen – als Symbol ihrer Lebensleistung – erfahren, dass es keine Zinsen mehr bringt. Gastronomen, Künstler und Eventveranstalter haben in der Pandemie erlebt, wie wenig die Politik ihren gesellschaftlichen Beitrag wertschätzt.

Zurück zu meiner Frage: Wie kommen wir aus der Ohnmacht? Ich glaube es braucht einen Perspektivwechsel. Wenn ich mich auf einer Wanderung im Tal verirre, hilft mitunter nur der Gang auf den Berg, um von oben wieder neuen Überblick zu gewinnen.

Es braucht auch eine Rückbesinnung auf die elementaren Dinge – damit bin ich wieder beim Bild vom Auenland. Zum Beispiel auf Gemeinschaft mit Menschen, mit denen ich meine Ängste teilen kann. Gerne erinnere ich mich an eine Filmszene, in denen die Hobbits miteinander ausgelassen das Leben feiern, bevor es in das Unbekannte, nach Mordor geht.

Die Ängste mit anderen teilen

“Gemeinschaft entsteht, wenn es gemeinsame Projekte gibt, sprich Visionen, wo alle das Gefühl haben, das verbindet und da kann jeder auch persönlich seinen Beitrag leisten”, bemerkt Grünewald. “Aber auch gemeinsame Bedrohungen, die wir jetzt erleben, können so eine Kraft haben.”

Das haben wir seit Freitagabend auch auf dem Gutshof erlebt: Rund um die Uhr haben wir mit zahlreichen Menschen gebetet: 24 Stunden über fünf Tage. Bis zum Tagesanbruch heute morgen, wenn Sie diesen Beitrag lesen. Meine Frau hatte bereits im November den Impuls, Christen aus allen Kirchen in der Region zu dieser Gebetsinitiative einzuladen, um für die positive Entwicklung von Nordhessen zu beten.

Niemand hat im November geahnt, dass wir fast zeitlich mit dem Beginn eines Krieges in Europa starten würden. Umso überraschter waren wir, wieviele Menschen den ganzen Tag über auf den Gutshof kamen, um mitzubeten. Gerade der Frieden in der Ukraine war für viele ein zentrales Thema.

Im Gebet haben wir gespürt, wie entlastend es sein kann, die eigenen Ängste mit anderen zu teilen und aktiv auch bei Gott abzulegen. Ein ganz wichtiges Momentum war für uns auch die Gemeinschaft, gemeinsam unsere Anliegen zu formulieren. Mit unseren Sorgen nicht alleine zu sein, sondern gemeinsam in die Stille zu gehen.

Auch als Gesellschaft müssen wir uns in diesem Wandel neu finden und wie Frodo und Sam im unbekannten Land bewähren. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen in dieser schwierigen Zeit Menschen an Ihrer Seite, mit denen Sie sich auf Augenhöhe austauschen können. Freunde und Weggefährten, denen Sie sich auch mit allen Ängsten zumuten können.

In herzlicher Verbundenheit

Rainer Wälde