Wer Aufgaben ständig vor sich herschiebt, leidet unter Prokrastination, wie die Aufschieberitis medizinisch benannt wird. Eigentlich müsste ich an diesem wichtigen Projekt weiterarbeiten, doch stattdessen gehe ich spazieren oder scrolle durch die sozialen Netzwerke. Warum bekomme ich nicht die Kurve und fange endlich an?

Aufschieberitis
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Braucht die Seele Zeit, um eine Zeitenwende zu verarbeiten?

Heute morgen habe ich die Aufschieberitis auch bei diesem Blogbeitrag erlebt. Statt wie geplant, pünktlich um neun Uhr mit dem Schreiben anzufangen, rufe ich meinen Bruder an. Wir telefonieren fast eine Stunde, es ist ein sehr gutes Gespräch. Dann lege ich den Hörer auf – jetzt aber muss ich loslegen. Doch das Telefonat hat mich so bewegt, dass ich erst mit meiner Frau darüber reden will. Wir trinken zusammen Kaffee und tauschen uns aus. Als ich endlich mit dem Schreiben anfange ist es bereits 10.45 Uhr.

Mir ist bewusst: Die Aufschieberitis betrifft viele Menschen – das bestätigen auch andere Selbständige und Führungskräfte, mit denen ich spreche. Zudem scheint das Prokrastrinieren in den letzten Monaten zugenommen zu haben – wie die Suchmaschine google Trends bestätigt.

Ich frage mich, ob dies an der “Zeitenwende” liegt, die seit der Ukrainekrise in den Medien zunehmend thematisiert wird. Die gesellschaftlichen Umbrüche, die sich schon seit Jahren abzeichnen, gewinnen in letzter Zeit noch mehr Aufmerksamkeit. Selbst der Tod der englischen Queen wird als Begründung herangezogen, dass derzeit eine gravierende Wende stattfindet.

Vielleicht braucht unsere Seele mehr Zeit, um diese Umbrüche zu verarbeiten? “Aufschieben tun wir alle, bloß mehr oder weniger stark”, betont die Psychologin Benthe Untiedt in einem aktuellen Interview mit dem Wirtschaftsmagazin “Neue Narrative”. Nach ihrer Beobachtung schieben “bis 95 Prozent der Menschen auf, circa 10-20 Prozent sind von Prokrastration betroffen.” Damit ist die klinische Arbeitsstörung gemeint, die auch von Prokrastinationsambulanzen wie der Universität Münster behandelt wird.

Was hilft gegen Aufschieberitis?

Mir persönlich hilft es, innezuhalten, um meiner eigenen Aufschieberitis zuzuhören: Fühle ich mich von der Aufgabe vielleicht überfordert? Oder ist es ein lästiger Job, der nur bei mir gelandet ist, weil ihn sonst niemand machen will? Vielleicht ist die Aufgabe auch so komplex, dass ich nicht weiß, wo ich überhaupt anfangen soll.

So wie beispielsweise die derzeitige Grundsteuerreform, die der Staat an seine Bürger delegiert. Statt die vorhandenen Daten der Grundbuchämter digital mit denen der Finanzämter abzugleichen, müssen 30 Mio. Bürger diese Aufgabe manuell übernehmen. Über 80 Prozent begegnen dem Problem mit Aufschieberitits – ich gehöre auch dazu.

Für die Psychologin Benthe Untiedt ist dies völlig normal: “vor allem wenn ich gar keine andere Möglichkeit habe, meine Emotion zu regulieren.” Doch gesellschaftlich ist die Aufschieberitis leider sehr verschrien: “Wir erzählen uns lieber von unseren Erfolgen als von den unzähligen Malen, in denen wir lieber kochen, spazieren oder schlafen gegangen sind.”

Eine zweite Option, die mir persönlich hilft: Ich suche mir Verbündete, um uns bei ungeliebten Aufgaben gegenseitig unterstützen oder zu motivieren. Im beruflichen Bereich machen wir dies im Team. Wir besprechen jeden Montag, welche aufgeschobenen Aufgaben wir in dieser Woche gemeinsam oder einzeln angehen – danach feiern wir gemeinsam die Erledigung.

Jippie Yeah – Jetzt wird gefeiert!

Noch eine dritte Beobachtung: Bei komplexen Projekten helfen mir persönlich klare Vorbereitungen. Ich räume bei schwierigen Aufgaben alles, was mich ablenken könnte, von meinem Schreibtisch – auch Handy und Tablett. Zudem setzte ich vielfältige Zwischenziele, wie zum Beispiel bei meinem neuesten Buchprojekt. Gegen Aufschieberitis hilft mir, dass ich vor dem Schreiben der ersten Zeile bereits einen Veröffentlichungstermin festlege.

Das heißt: Ich plane im Januar, dass das Buch am 23. September erscheinen soll. Dieses Zieldatum motiviert mich über acht Monate an meinem Projekt dran zu bleiben. Bereits im Mai erteile ich einen Druckauftrag – obwohl das Buch noch gar nicht fertig ist. Dieser kleine aber sehr wichtige Zwischenschritt treibt mich positiv an, damit ich meine Arbeiten nicht aufschiebe.

Neben meinem Schreibtisch hängt von Tag 1 an das fertige Buchcover – auch das motiviert mich: So wird das Buch, das noch nicht geschrieben ist, fertig gedruckt aussehen. Natürlich freue ich mich jetzt schon wie Bolle, wenn in einer Woche das erste gedruckte Exemplar von der Druckerei angeliefert wird. Jippie Yeah! – ich habe meinen täglichen Kampf gegen die Aufschieberitis gewonnen! Jetzt wird gefeiert!