Am Wochenende habe ich einen provokanten Satz gelesen: “Das Leben ist zu kurz für oberflächliche Freundschaften”. Das Zitat von Clara Ott hat mich ins Nachdenken gebracht: Welche Beziehungen empfinde ich als oberflächlich? Nehmen ich mir genügend Zeit für tiefe Freundschaften? Und wie finde ich neue Freunde?

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Wie hoch ist meine Wandel-Kompetenz?

Die Pandemie hat vieles auf den Prüfstand gestellt – auch Beziehungen. Eine Unternehmerin berichtet mir, dass sie seit Corona keine Lust mehr auf oberflächliche Bekanntschaften hat. Wir diskutieren darüber, ob sie auch den Mut hat, diese Beziehungen zu kappen?

In unserem Freundeskreis habe ich kürzlich mit zwei Frauen gesprochen, die seit der Pandemie ihre Ehe neu bewerten und vor der Frage stehen, ob sie mit ihrem Partner so weiter leben wollen.

Im Business gibt es ein neues Zauberwort. Es heißt Wandel-Kompetenz. Manche habe die Pandemie genutzt, um in der Veränderung eine neue Fähigkeit zu entwickeln. Dabei geht es um die Frage: Wie gelingt im Wandel die Entwicklung von Beziehungen und Menschen?

Darf ich die Kontakte im Handy einfach löschen?

Ich selbst bin in meinem Beziehungen sehr langfristig angelegt: Freundschaften pflege ich über Jahrzehnte, berufliche Beziehungen – selbst zu Lieferanten – so lange es geht. Erst kürzlich habe ich meinem Internet-Provider geschrieben, dass wir seit der allerersten Webseite jetzt 30 Jahre zusammenarbeiten. Das selbe gilt für die Druckerei und etliche andere.

Doch wenn ich die Namen in meinem Handy durch scrolle gibt es etliche Kontakte, bei denen der Beziehungsstatus Null ist. Seit Jahren nichts mehr gehört, keine Ahnung wie es dem anderen geht. Doch mir fehlt der Mut, den Kontakt einfach zu löschen. Warum eigentlich? Vielleicht ist da noch ein Quäntchen Hoffnung? Oder ist das nur Beziehungsromantik?

Mir persönlich hilft es, einmal im Jahr ein Beziehungs-Cockpit zu erstellen: Ich schreibe in meiner Kladde alle Namen von Menschen auf, mit denen ich verbunden bin: Familie, Mitarbeiter, Freunde, Nachbarn, Bekannte. Dann bewerte ich die subjektive Beziehungsqualität: 10 steht für sehr gut.

Potential zur Veränderung

Ziemlich überrascht stelle ich fest, dass ich der Beziehung zu meinem besten Freund eine 8 gebe. Im Bekanntenkreis gibt es auch Beziehungen, die ich spontan mit 3 oder 4 bewertet habe. Ich muss zugeben: Diese schlechten Werte schockieren mich selbst.

Nun muss ich für 2023 selbst eine Entscheidung treffen: Will ich die Beziehungen weiterführen? Wenn ja, wie entsteht neue Beziehungsqualität? Während Corona mussten viele auf Präsenztreffen verzichten, Geburtstags- und Familienfeiern fielen aus. Doch nun liegt es an beiden Seiten bewußt “Ja” zu einer Fortführung zu sagen und einen neuen Schritt auf den anderen zuzugehen.

So wie bei Constanze: Fast zwei Jahre lag die Freundschaft brach. Obwohl wir seit 30 Jahren befreundet sind, hat die Pandemie unsere Beziehung erschüttert. Sie hatte extreme Angst vor Ansteckung, schob die weite Entfernung vor, warum sie uns nicht mehr einladen oder besuchen wolle. Nun trafen wir uns auf halber Strecke und hatten einen wunderschönen Tag. Es war, so als hätten wir uns gestern erst gesehen. So herzlich und tief.

Aktiv Beziehung klären – geht das?

Mit den Freunden, die mir sehr am Herzen liegen – spreche ich ganz offen über unsere Beziehung. Ich frage aktiv, wie oft wir uns 2023 verabreden wollen. Mit meinem besten Freund habe ich vier Treffen vereinbart, mit anderen zwei Tage oder ein gemeinsames Wochenende. Das ist die Haben-Seite.

Doch auf der Soll-Seite spüre ich inneren Widerstand in mir. Vor allem dann, wenn ich die Freundschaft als Einbahnstraße erlebe. Damit meine ich Beziehungen, die nur noch einseitig von mir gepflegt werden. Das Tüpfelchen auf dem “i” war kürzlich das Gespräch mit einer Person, die selbst eine Strichliste führte, wie oft sie von anderen angerufen wurde – aber selbst ausgesprochen passiv war.

An der Stelle endet meine “Gutmütigkeit” – der innere Modus, extra Meilen zu gehen. Wer zuhause wartet, von Freunden angerufen zu werden und selbst nicht den Hintern hochkriegt… Sorry, aus diesem Spiel steige ich direkt aus. Das passt für mich nicht zum mündigen Beziehungs-Ich, in dem beide Seiten für den Dialog verantwortlich sind.

Wen vermissen Sie am meisten?

In meinem jährlichen Beziehungs-Cockpit gibt es auch den Punkt Trauer: Welche Beziehungen habe ich 2022 verloren? Bei mir sind es zwei Freunde und zwei Familien-Mitglieder, die im vergangenen Jahr gestorben sind. Ihr Verlust schmerzt nach vielen gemeinsamen Erlebnissen besonders.

Doch in der Trauer spüre ich, wie wichtig es ist, neue Beziehungen zu pflanzen. Es ist für mich eine bewusste Entscheidung, genügend Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren, damit neue Freundschaften entstehen können. Ich darf nicht in meiner Enttäuschung und Trauer verharren, sondern brauche eine innere Offenheit, damit dies gelingt.

Zum Schluss ein persönlicher Tipp: Manchmal ergibt sich ein Kairos-Moment. Ich begegne einem Menschen und ohne Mühe gelingt ein tiefes Gespräch – das emotional berührt. Wenn dies so ist, thematisiere ich diese Beobachtung und frage ganz offen, ob wir unseren Dialog nicht fortführen, uns wieder sehen wollen.

Manche sind irritiert, andere reagieren positiv: “Sehr gerne” – auf diese Art habe ich in den letzten Jahren einige neue Freunde gewonnen. Das sind für mich große Geschenke, die ich auch 2023 pflegen möchte.

Tagung für Wandel-Kompetenz

Wenn Sie das Thema vertiefen möchten: Mein Freund Johannes Hüger veranstaltet in vier Woche eine Tagung, in der es um die Wandel-Kompetenz in beruflichen Beziehungen geht. Weitere Infos gibt es auf seiner Webseite.