Es braucht Mut, sich mit dem eigenen Ich auseinanderzusetzen: Warum bin ich? Das ist eine sehr intime Frage, weil sie die tiefste Ebene meines Seins berührt.

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Wie glücklich war meine Kindheit?

Unvergesslich sind die Momente mit meinem Großvater, wenn er stolz mit seinem Enkel zum Bahnhof lief. Wir standen beide vor dem Lokschuppen, davor eine große Drehscheibe, auf der sich eine Dampflokomotive langsam auf uns zu bewegte. Dieser schwarze Koloss mit den langen Kolben löste in mir eine emotionale Dissonanz aus: Ich war fasziniert von der Technik, gleichzeitig eingeschüchtert von der Autorität dieser Maschine.

Doch da war die starke Hand meines Großvaters, der schmunzelnd auf mich herabsah und mir Sicherheit vermittelte. Er kaufte zwei Fahrkarten aus dickem Karton, die mit einer Zange entwertet wurden. Dann stiegen wir in die 2. Klasse und fuhren über ein großes Schwarzwald-Viadukt. Mein Opa packte zwei Brezeln aus, die dick mit Butter bestrichen waren, und wir fingen an zu genießen.

Diese frühen Erlebnisse haben sich tief in meiner Identität eingeprägt: die väterliche Sicherheit, das Glück des Reisens, die Muße, einfach nur am Fenster zu sitzen und den Augenblick zu genießen. Aber auch der Moment des Abschiednehmens, wenn die Reise zu Ende ist.

Jede Lebensgeschichte hat eine andere Dramaturgie

Der Psychologe Dan McAdams hat Hunderte von Personen interviewt, um herauszufinden, welche Geschichte sie von sich und ihrem Leben erzählen. Beim Zuhören wurde ihm bewusst, dass jede Geschichte eine Dramaturgie in sich trägt. Sie gleichen in ihrer Struktur zwischen Anfang und Ende, Höhe und Tiefpunkten den alten Mythen, die in allen Kulturen zu finden sind.

Es geht um Gut und Böse, um Helden, die Abenteuer bestehen und wieder zurückkehren, um von ihren Erfahrungen zu berichten.

Wenn ich Selbstständige und Führungskräfte im Coaching begleite, frage ich sehr gern nach diesen Lebensgeschichten. Ich will herausfinden, in welcher Situation mein Gegenüber besonderes Glück erlebt oder eine schwere Lebensprüfung überstanden hat. Spannend finde ich die Geschichten, die eher nebenbei erzählt werden oder erst nach einigem Nachfragen zu hören sind. Warum blende ich diese Geschichten aus, während ich andere Erfahrungen immer wieder zum Besten gebe?

Das eigene Leben als Buch denken

Für die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens empfiehlt die Psychologin Tatjana Schnell eine simple Übung. Sie rät dazu, das Leben als Buch zu denken: Zuerst male ich eine horizontale Linie auf ein Blatt Papier. Dann markiere ich wichtige Ereignisse, Wendepunkte in meiner Lebensgeschichte. Mit jedem schönen oder traurigen Erlebnis wird mein Leben in Kapitel eingeteilt, denen ich auch eine passende Überschrift gebe. Schnell empfiehlt, drei bis maximal sieben Lebensphasen zu markieren.

Spannend sind die Gefühle, die ich beim Aufzeichnen spüre: Angst, Trauer, Wut, tiefes Glück, Leichtigkeit. Beim Aufschreiben lerne ich mich und meine Geschichte besser kennen, kann die emotionalen Momente nachvollziehen. Wie denke und fühle ich? Was macht mich in meinem tiefsten Inneren aus? Plötzlich werde ich mir meiner Rolle bewusst: Fühle ich mich als Held oder als Opfer? Welche Möglichkeiten hat mir meine Familie ermöglicht, was wurde verhindert?

Wie fördere ich meine Kreativität?

Ich selbst wusste schon sehr früh, dass ich künstlerisch begabt bin. Meine Eltern waren mitunter überfordert von meiner blühenden Fantasie und der starken Kreativität. Mit einigen Gleichgesinnten habe ich in der Oberstufe des Gymnasiums eine Initiative gestartet, um einen Kunst-Leistungskurs zu ermöglichen. Mit vereinten Kräften haben wir vom Kultusministerium eine Ausnahmegenehmigung erhalten und konnten unser Abitur in Kunst machen.

Unser Glück: Eine bildende Künstlerin, die uns ganzheitlich unterrichtete, mit in ihr Malatelier nahm, die Vorbereitung ihrer eigenen Ausstellungen zeigte. Sie hat uns einen großen Horizont für Kunst und Kultur aufgeschlossen, der bis heute mein Leben prägt. Ich habe gelernt, wie sinnstiftend die kreativen Ausdrucksformen für mein Leben sind.

Bei der Frage nach dem Lebenssinn spielt auch meine Weltanschauung eine große Rolle. Meine Glaubenssätze, meine Denkmuster prägen mein Denken und Handeln. Ich selbst bin ein sehr spiritueller Mensch. Obwohl ich einen atheistischen Vater hatte, wurde ich von meinen Großeltern an den christlichen Glauben herangeführt.

Die eigene Spiritualität integrieren

Meine Großmutter hat mir eine Spiritualität vorgelebt, die ich sehr berührend fand. Sie war keine Frau der vielen Worte, aber mit einer großen Ehrfurcht vor Gott. Durch zwei Kriege hat sie so viel Lebensweisheit gesammelt, dass mir ihre wortlose Präsenz gereicht hat. Ihr Respekt vor dem Leben und die Demut vor dem Heiligen haben mich als Kind berührt.

Wenn ich heute in einer Kapelle sitze oder auf einer Bank am Waldrand, kann ich diese Energie spüren. Die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte stärkt meine Identität, sie prägt mein Ich. Diese Erfahrungen teile ich gern auch im Coaching, wenn es um Umbrüche im Leben geht. Sie prägen auch meine täglichen Entscheidungen: Wofür will ich die verbleibende Lebenszeit einsetzen? In welche Menschen will ich mich investieren?

Für mich sind es Jugendliche, die sich für Medien interessieren. Deshalb engagiere ich mich für eine neue Drehbuch-Akademie. Doch manches Mal kann ich einfach nur wortlos dasitzen – wie der kleine Junge beim Anblick des Eisenbahn-Viadukts. Ich spüre meinen Atem, freue mich über die Wärme der Frühlingssonne. Dann verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart und ich genieße die Kraft dieses einzigartigen Moments.