Am 1. Advent ist es genau ein Jahr her. Plötzlich streikt mein linkes Ohr. Out of the blue. Ich liege im Bett und kann meine Frau nicht mehr verstehen – obwohl sie nur wenige Zentimeter entfernt ist. 

Hörsturz
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Wochen der Ohnmacht

Der HNO formuliert eine klare Diagnose: Hörsturz. “Da kann man nichts machen”, meint er. “Damit müssen Sie leben.” Ich hake nach, frage nach Infusionen. Antwort: “Placebo, bringt nichts.”

In meinem Kopf ist die Stille verschwunden. Stattdessen höre ich eine Großstadt: Müllautos, Busse, Ventilatoren. Multiple Geräusche – obwohl ich auf dem ruhigen Land wohne. Das Problem: Ich kann den Lärm nicht mehr abschalten, es gibt keinen Schalter.

Nach zwei Wochen bin ich nervlich am Ende. Der Dauerlärm macht mich krank. Ich kenne Tinnitus, aber das ist etwas anderes. Spüre eine Form von Lebens-Müdigkeit. Kurz vor Heiligabend besuche ich in meiner Verzweiflung einen zweiter HNO: Gleiche Diagnose, aber er hat ein klare Medikation. “Das wird besser, verspricht er, wir arbeiten in drei Stufen. Wir fangen am Besten sofort an.”

Wo ist mein Leben aus der Spur geraten? 

Der klare Stufenplan mit Cortison bringt wirklich Verbesserung. Doch Weihnachten und Silvester fallen für mich aus. Laute Familienfeste stressen mich noch mehr. Ich gehe in die Stille, bete und denke nach.

In der Einsamkeit höre ich in mich hinein. Was hat mich überfordert? Wo ist mein Leben aus der Spur geraten. Sofort fallen mir zwei Todesfälle im engsten Familienkreis ein, die nur wenige Wochen zurück liegen.

Ich merke, dass auch drei Jahre Pandemie und die massiven Existenssorgen massiv Lebensenergie verbraucht haben. Doch ist das alles? Was mich überrascht, auch etliche junge Menschen erleiden einen Hörsturz. Das ist nicht nur ein Thema der älteren Generation.

Professionelle Hilfe

Ich gehe zu meiner Hausärztin. Sie will mir Psychopharmaka verschreiben, um meinen Blues zu dämpfen. Doch ich lehne ab. Stattdessen suche ich mir professionelle Hilfe bei einem Psychotherapeuten. Wir vereinbaren eine 12monatige Begleitung. Die regelmäßigen Gespräche helfen mir, nicht zu verzweifeln.

Bis März hat sich die Hörfähigkeit verbessert, doch die multiplen Geräusche in meinem Kopf bleiben. Sie reduzieren massiv die Lebensfreude. An meinem Geburtstag weist mich eine langjährige Freundin auf einen Zahnarzt in Marburg hin.

Zuerst tippe ich innerlich an die Stirn: Hörsturz und Zähne? Das hat doch nichts miteinander zu tun. Doch der Spezialist hat hunderte von Patienten über 15 Jahre behandelt. Er nimmt sich eine Stunde Zeit für die Anamnese, dann zeigt er mir seinen Behandlungsplan.

Unsere Kiefermuskeln sind in der Lage 700 Kilogramm Kraft aufzubringen, sagt er. Doch viele Mediziner übersehen: Der Gehörknochen hängt am Kiefer – verbunden mit einer Faser, dünn wie Zahnseide. Ist der Kiefer verspannt, haben wir auch Gehörprobleme. Multiplen Tinnitus.

Er verschreibe Kaudaltraktion: Der Kiefermuskel wird gedehnt. Das ist schmerzhaft, hilft jedoch wirklich. Bereits nach einigen Wochen verschwinden die Großstadtgeräusche. Es bleibt ein leises kaum wahrnehmbares Rauschen. Ich höre meine Aterie – mehr nicht.

Mut zum inneren Dialog

Nun fragen Sie sich vielleicht, warum ich Sie heute im Advent mit meiner Heilungsgeschichte behellige? Neben der medizinischen Heilung habe ich in diesen schwierigen Monaten auch einen neuen Zugang zu mir selbst gefunden.

Entscheidend dafür waren die Wochen des Innehaltens, des Wartens, des Ruhegebens. Der innere Dialog und die Gespräche mit einem Profi. Eine große Hilfe waren auch zwei Bücher der Hamburger Ärztin Dr. med. Mirriam Prieß

Das Buch „Die Kraft des Dialogs“ beschreibt sehr anschaulich, wie ich einen besseren Dialog mit mir selbst, meinem Beruf und meinen Beziehungen komme. Dieser Ratgeber hat meiner Frau sehr geholfen, unsere eigene Kommunikationsfähigkeit zu stärken.

Dr. Prieß illustriert sehr gut, wie wir aus der Sackgasse unserer eigenen Prägung befreien können und wieder Zugang zu den Kraftquellen finden. Mein Lesetipp: „Zeit für einen Spurwechsel. Wie wir aufhören uns selbst zu blockieren und dem Leben eine neue Richtung geben.“

Über dieses Thema werde ich in meinem nächsten Blogbeitrag Anfang Januar ausführlich schreiben und gerne meine Erfahrungen mit Ihnen teilen.

Heute verabschiede ich mich in die Weihnachtspause und wünsche Ihnen einen gesegneten Advent.

Herzliche Grüße

Rainer Wälde