Im Einzelcoaching geht es meist um die Frage, wie ein sinnerfülltes Leben gelingt. Doch Sinn ist nicht wie ein verloren gegangener Schlüssel, den man plötzlich wieder findet. Sinn erfahre ich durch Begegnungen und durch scheinbar nutzlose Dinge.

Foto: shutterstock

An welche Wand stelle ich meine Leiter?

Als Filmemacher schätze ich den amerikanischen Autor und Lehrer Joseph Campbell, der sich stark mit der Heldenreise beschäftigt hat. Von ihm habe ich kürzlich ein Zitat gelesen, dass ich noch nicht kannte. Campbell sagte einmal, wir würden Jahre damit verbringen, auf einer Leiter nach oben zu klettern. Doch dann stellen wir plötzlich fest, dass wir die Leiter an die falsche Wand gestellt haben.

Dieses Zitat hat mich auf der Stelle gepackt und zu einigen spannenden Fragen geführt: In welchen Bereichen strenge ich mich an, um hoch zu steigen? An welchen Stellen übersehe ich, dass mein Engagement überhaupt nichts bringt?

Als Erstes fällt mir mein ehrenamtliches Engagement in einem regionalen Verein ein. Vor fünf Jahren wurde ich gebeten, dort aktiv mitzuarbeiten. Die ersten zwei Sitzungen waren sehr konstruktiv. Eine kreative Aufbruchstimmung. Doch dann habe ich gemerkt, dass der Leiter zwar die Impulse notiert, aber als hauptamtlicher Geschäftsführer nur wenig bis gar nichts davon umsetzt.

Innehalten und die Postion überprüfen

Bei einigen konkreten Verbesserungsvorschlägen hatte ich das Gefühl, dass er wenig Veränderung wünscht. Auch auf Mails kamen keine Antworten mehr. Ganz offensichtlich weil er zwei Jahre vor der Rente nur noch den Status Quo erhalten will

Mit sinnvoller Entwicklung hat das wenig zu tun und ich merke, dass meine Impulse und die der anderen ins Leere laufen. Ganz offensichtlich habe ich in diesem Fall meine Leiter an die falsche Wand gestellt und muss Konsequenzen treffen.

Ich erinnere mich an den Kirschbaum meiner Großmutter, auf den ich als Junge gerne geklettert bin. Mitunter habe ich erst oben auf der Leiter gemerkt, dass es an dieser Stelle nichts zu pflücken gibt. Dieses Innehalten und die Position prüfen braucht es auch in meinem heutigen Alltag.

Aus erster Hand leben

Um den Sinn meines Handels zu erleben, muss ich mich immer wieder auch auf Neues einlassen. Wenn ich beim kleinen Gemüsehändler im Laden stehe und er mir eine Orange anbietet, bin ich geneigt, dies abzulehnen. “Was soll das, ich weiß doch wie Orangen schmecken.”

Doch mit meiner Ablehnung verbaue ich mir die Chance, etwas neues zu Entdecken. Gerade in der Mitte des Lebens bemerke ich, dass ich Angebote schnell aussortiere: Kenn ich schon, brauche ich nicht. Dieser Filter ist auf der einen Seite hilfreich. Natürlich können wir nicht durch jede offene Tür gehen. Gleichzeitig reduziere ich – ohne Not – meinen Radius und beschränke mich auf das bereits Bekannte.

Das Leben aus erster Hand bietet eine Fülle von sinnhaften Erfahrungen – das haben viele Menschen während der Pandemie erlebt. Es macht einen großen Unterschied, ob ich im Lockdown ein Merian-Heft über Paris lese oder mich jetzt in den Zug setze und dort hinfahre.

Vielleicht klingt dieser Vergleich banal. Aber er ist für mich eine wichtige Spur zum singerfüllten Leben. Ich genieße gerade die Spätsommertage. Freue ich über die Wärme und die Begegnung mit Freunden im Garten. Der tiefe Austausch füllt meine emotionalen Speicher.

Haben Sie den Mut, etwas Nutzloses zu tun

Als ich mich im zweiten Lockdown entschieden, meinen ersten Roman zu schreiben, gab es aus meiner Familie einen pointierten Kommentar: “Hast du nichts Wichtigeres zu tun?” Zuerst musste ich schlucken, dann antwortete ich keck: “Im Moment nicht.” Mir die Zeit zu nehmen, etwas scheinbar Nutzloses zu tun – das hat für mich auch eine singstiftende Qualität.

Warum muss alles, was ich mache, immer nützlich sein? Sport machen, um fit zu bleiben. Uralten Bekannten zu gratulieren, damit der Kontakt erhalten bleibt. Obwohl schon seit Jahren Funkstille herrscht.

Ich erinnere mich an Situationen, in denen ich stolz verkündete, jetzt mehr Bücher auf Englisch zu lesen, damit ich in Übung bleibe. Kann ich nicht einfach ein Buch lesen, weil ich mich unterhalten lasse – ohne Nützlichkeit und eine Rechtfertigung?

Ich singe gerne – nur für mich. Wenn ich eine Rose sehe, fange ich an zu schnuppern. Morgens sitze ich gerne im Garten – auch an einem Werktag und blinzle in die Sonne. Einfach nur so, weil ich es schön finde.

Ich liebe Schwarzweiß-Fotos

In der letzten Woche waren zwei junge Leute bei mir auf dem Gutshof. Eine junge Abiturientin, die meine Fotos auf Instagram cool findet. Wir haben uns verabredet, in der Abendsonne Portraitfotos geschossen. Einfach nur so – weil es Spaß machte.

Wir haben gelacht und hatten einen Riesenspaß. Leben im Hier und Jetzt – auch das macht Sinn. Gestern Abend kam ein junger Mann aus Kassel – mit dem Fahrrad. Fast eine Stunde zu spät – er hatte sich in der Distanz verschätzt. Obwohl wir uns noch nie getroffen haben, hatten wir super Gespräche. Nach einem starken Kaffee und zwei Müsliriegeln hatte er Lust auf ein paar Fotos.

Ziemlich schnell war klar, dass die Chemie zwischen uns stimmte. Wir beide hatten eine Fülle von Ideen und ließen uns mitreißen von der kreativen Energie. Erst alles bereits dunkel war, hörten wir auf zu lachen und zu shooten. War es ein nutzloser Nachmittag? Im Gegenteil: Das scheinbare Überflüssige gab uns beiden soviel Lebensfreude.

Die Leiter stand definitiv an der richtigen Wand.

Mein Buchtipp: “Leben macht Sinn” von der Psychotherapeutin Irmtraud Tarr.