Corona hat viele Sicherheiten geraubt. Bei Künstlern und Selbständigen die berufliche Existenz. Plötzlich werden wir manche von uns mit einer neuen Heimatlosigkeit konfrontiert und der Frage: Wo wird Heimat künftig noch möglich sein?

Heimat
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Heimatlosigkeit entsteht durch Erschütterung

In der aktuellen Ausgabe der “Zeit” bin ich auf ein neues Buch des Philosophen Wilhelm Schmid gestoßen: “Heimat finden”. Er schreibt: “Heimatlosigkeit entsteht durch die Erschütterung, dass etwas nicht mehr so ist, wie es vertraut war – nicht nur in Bezug auf das Leben an einem Ort, sondern auch auf das Lebensverständnis, die Weltsicht, die Verbundenheit mit anderen.”

Beim genauen Hinhören und Hinsehen in meinem Freundeskreis beobachte ich diese Heimatlosigkeit in unterschiedlichen Generationen. Da sind die Kinder, die seit Monaten ihre Freunde vermissen. Die Konfirmanden, deren Initiationsritual in die Gemeinschaft der Erwachsenen seit einem Jahr verschoben wird. Abiturienten, deren Work&Travel Jahr abgesagt wurde.

Ich spreche mit Studenten, denen nach drei Semestern in der Bude vor dem Computer statt im Vorlesungssaal die Decke auf den Kopf fällt. Brautpaare, die sich seit Monaten überlegen, ob sie erneut die Hochzeit absagen oder heimlich in einem Garten feiern sollten?

Wilhelm Schmid nennt diese Erschütterung “die unheimliche Erfahrung, dass jede Gewissheit über Nacht wegbrechen kann.” Nach seiner Ansicht wird “Heimat zu einem flüchtigen Gut”. Dabei werden auch “die Menschen selbst flüchtig”.

Niemand kann ich völliger Fremdheit leben

Etliche Menschen stehen vor der Frage: Wie gehe ich in diesem Gefühl der Fremdheit und Verlorenheit um, wenn meine innere Heimat untergeht? Lassen Sie mich dazu ein ganz persönliches Beispiel erzählen. Ich erinnere mich noch sehr gut an den 20. April 2016: Das war der Tag, als ich mit meiner Frau zum ersten Mal im Gutshof in Nordhessen ankam. Es dauerte gefühlt drei Minuten, da wussten wir beiden: Das ist der Ort, den wir 10 Jahre gesucht haben.

Wir waren ergriffen von der Landschaft, den alten Mauern, der Architektur, die uns beiden Heimat versprach. Nach dem ersten Rundum-Blick schauten wir uns kurz ganz tief in die Augen: Dann nickten wir uns wortlos zu. Wir fühlten uns auf eine besondere Art zuhause, obwohl wir zuvor noch nie an diesem Ort gewesen waren. Dieses erste Gefühl von Heimat ist auch heute – fünf Jahre danach – deutlich zu spüren.

Nach unserem Einzug vor vier Jahren in den Gutshof haben wir sehr schnell neue Freunde und Bekannte gefunden. Auch beruflich konnten wir mit unserer Akademie an den Erfahrungen der vorherigen Jahre anknüpfen. Als Filmemacher und auch als Unternehmerberater ging es bei mir in Nordhessen nahtlos weiter. Ich erinnere mich an die ersten Beratungstermine bei uns in der Küche, weil die Seminarräume noch nicht fertig waren. Die ersten Kunden fanden das familiär und in der Pionierphase völlig in Ordnung.

Corona setzt eine tiefe Zäsur

Doch die Pandemie hat die vertraute Wärme, die Nähe, das Beziehungsgeflecht auf eine harte Probe gestellt. Sie wurde für viele von uns durch eine Fremdheit im Umgang ersetzt. Auch Selbständige, die wie meine Frau und ich über Jahrzehnte gut aufgestellt waren, erlebten, dass sichere Standbeine nicht mehr halten, verlässliche Einnahmequellen plötzlich versiegen.

Gleichzeitig hat die Corona-Krise eine neues Gefühl von Heimatlosigkeit ans Licht gebracht, die ich in dieser Form nicht kannte: Der Verlust von beruflicher Heimat. Seit einem Jahr kann ich meinen Beruf nicht mehr so ausüben, wie es bislang kannte. Diese Erfahrung rüttelt an meinem Selbstverständnis, meiner Identität.

Doch die Pandemie hat noch eine dritte Ebene mit sich gebracht: Der Verlust unseres Mitarbeiter-Teams. Das war für uns beide die schwerste Probe. Im letzten Jahren haben wir fast alle Mitarbeiter verloren. Das Team, das wir über die Jahre aufgebaut haben, ist nicht mehr da. Wie bei Monopoly zurück auf Los. Alles auf Anfang. Das zehrt auch bei uns an den Kräften.

Wo finde ich meine Seelenheimat?

Die Gedanken von Wilhelm Schmidt inspirieren mich, ganz neu über meine “Seelenheimat” nachzudenken. Zitat Schmid: “Niemand kann in völliger Fremdheit leben, jede und jeder bedarf irgendeiner Heimat, besser aber mehrerer Heimat, um nicht vor dem Nichts zu stehen, wenn eine verloren geht.”

Ich denke dabei an ein Bild von Caspar David Friedrich, das ich vor Jahren in einem Dokumentarfilm für das Fernsehen vorgestellt habe: Der “Mönch am Meer” steht am Ufer. Er ist ganz alleine, vor ihm das Wasser, über ihm der Himmel. In diesem Bild steckt das Symbol der Unendlichkeit. Die spannende Frage: Wie gehe ich mit der aktuellen Grenzsituation um?

Mir persönlich hilft der Dialog, der Austausch mit Freunden. “Heimat ist überall, wo die Liebe zur Erfahrung wird”, schreibt Wilhelm Schmid. Ich brauche diese tiefen Begegnungen mit Menschen, sie sind Teil meiner geistigen Heimat. Mit ihnen kann ich auch das Auf und Ab meiner Seele teilen, die eigenen Ängste offenbaren.

“Heimat ist das, was nicht egal ist”, betont Schmid. Für mich sind es die kleinen Rituale, die auch dem Alltag im Home-Office einen verlässlichen Rahmen geben. Das Morgengebet in der Gutshof Kapelle, der Spaziergang mit Freunden im Dorf.

Heimat ist mehr als ein Ort. Dabei denken wir besonders an die Kinder in der Nachbarschaft, die Schüler und Studenten. Jeder braucht Menschen in der Nähe, die in diesen herausfordernden Zeiten eine Seelenheimat bieten. Gleichzeitig bin ich sehr gespannt auf die neue Welt, die gerade um uns herum entsteht. Nach meiner Beobachtung ist sie schon spürbar, aber in weiten Teilen noch nicht sichtbar.

Nun bin ich gespannt auf Ihre Reaktionen: Wo finden Sie momentan eine Heimat für Ihre Seele?

Herzliche Grüße

Ihr Rainer Wälde