„Ich bin ganz Ohr“ ist ein schönes Bild für Menschen, die gut zuhören können. Doch leider sagt das kaum noch jemand. Wie können wir diese kostbare Tugend neu entdecken?

Zuhören
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Ganz Ohr sein

Carsten ist ein guter Zuhörer. Das begeistert mich bei unseren Begegnungen immer wieder. Am Dienstagmorgen sitzen wir beide im Dachcafé in Gießen. Als Notarzt arbeitet er meist nachts und am Wochenende, wenn viele Praxen geschlossen haben. Als Freunde ist es für uns einfacher, wenn wir uns werktags zum Frühstück treffen. Irgendwo auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Kassel.

In den letzten Jahren haben wir schon alle möglichen Cafés entlang der Autobahn getestet. Doch der Kern unserer Begegnung ist das „Ganz-Ohr-Sein“. Den anderen wahrnehmen mit allen Fragen, die ihn beschäftigen. Ganz da sein, aufnehmen, was wirklich ist. Einfach Zuhören – doch so einfach ist es nicht.

Ich beobachte seit einiger Zeit, dass vielen von uns das Zuhören sehr schwerfällt. Wir sitzen zwar am selben Tisch, essen und trinken zusammen. Doch hören wir einander zu? Etliche scheinen nur noch reden zu wollen, von sich, ihrem Alltag, ihren Problemen. Ich kann das gut verstehen. Es tut unendlich gut, wenn der andere aktiv verfolgt, was sein Gegenüber beschäftigt.

Doch manchmal habe ich den Eindruck, es geht nicht um den Dialog, sondern nur um eine passive Resonanz für ihr Leben. Mir fällt das immer auf, wenn ich in einer Gruppe die Unruhe der anderen bemerke, den versteckten Blick auf die Uhr oder aus dem Fenster. Das leichte Scharren mit den Füßen, weil sie endlich auch drankommen wollen.

Wenn ich nur nebenbei höre

In meinem beruflichen Leben habe ich viele Jahre Menschen interviewt. Einige Jahre als Reporter beim Radio, später als Moderator einer Talkshow. Fragen stellen ist mein Beruf. Doch die eigentliche Kunst ist das Zuhören-Können. Das musste ich als junger Journalist schmerzhaft lernen.

Unvergessen ist einer meiner ersten Fernsehauftritte. Als Moderator habe ich mich stundenlang mit der Geschichte der Gäste beschäftigt, mir gute Fragen überlegt. Sie sorgsam auf Moderationskärtchen geschrieben. Eingeschüchtert vom Fernsehstudio, den großen Kameras und den blendenden Scheinwerfern saß ich nervös auf meinem Platz. Ich wartete aufgeregt auf das Ende jeder Antwort, um die nächste Frage zu stellen.

Doch dabei habe ich das Allerwichtigste vergessen: meinen Interview-Gästen zuzuhören! Erst nach der Sendung habe ich verstanden, warum das eine oder andere Gespräch misslungen ist. Ich war zu sehr bei mir, meiner Nervosität und meinen Fragen. Kurz gesagt: Ich habe nur mit einem Ohr zugehört. Mir wurde bewusst, so kann kein Gespräch gelingen.

Es hat bewusstes Training gebraucht, um diese Hürde zu überwinden. Alfred Biolek und Roger Willemsen waren für mich zwei wichtige Vorbilder, um gutes Zuhören zu lernen.

Erst Jahre später hat ein Kollege aus Österreich seine Lebenserfahrung als Fernsehreporter mit mir geteilt: „Die Fragen sind völlig wurscht, entscheidend sind nur die Antworten.“ Dieser Satz hat mich zum Lachen gebracht. Besser hätte niemand mein Dilemma als junger Reporter auf den Punkt bringen können.

Ein tiefer Dialog, der wie ein guter Duft wirkt

Vielleicht lehnen Sie sich an dieser Stelle meines Textes entspannt zurück: „Wenn schon ein Profi so viel Mühe beim Zuhören hat, wie soll ein Laie das können?“ Im Rückblick bin ich dankbar für die guten Zuhörer in meiner Familie: Meine Großmutter war sehr gut darin. Ganz im Gegensatz zu den männlichen Patriarchen, die meist nur über sich geredet haben.

Auch Ilonas Papa hat mich als Zuhörer geprägt. Ich war bereits 40 Jahre alt, als wir uns kennenlernten. Er musste sich selbst und auch anderen nichts mehr beweisen. Konnte einfach nur da sein und gut zuhören. Doch seine Antworten waren so persönlich, dass ich mich verstanden fühlte.

Ich glaube, gutes Zuhören setzt zwei gravierende Eigenschaften voraus: eine stabile Identität, eine innere Klarheit, wer ich im tiefsten Inneren bin. Der zweite Punkt ist das Verständnis für die Aussage des anderen. Ich muss nicht seiner Meinung sein, aber verstanden haben, was ihn bewegt, was seine Position ist. Das fördert die Fähigkeit zum Dialog. Nicht nur zum Austausch von Argumenten, sondern zum inneren Zuhören.

Im Judentum gibt es einen schönen Satz. Salomo, der Sohn des berühmten Königs David, hat ihn formuliert: „Gib mir ein hörendes Herz.“ Dieser Gedanke bringt auf den Punkt, worum es beim Zuhören wirklich geht. Mit Herz und Verstand aufzunehmen, was mein Gegenüber beschäftigt. Ganz da zu sein, wenn mein Gegenüber redet.

Das bedeutet auch, die Stille auszuhalten. Einen Satz stehen und erst einmal wirken zu lassen, bevor man schnell zum eigenen Thema wechselt. Diese Stille – auch im Dialog – hat eine besondere Qualität, sie wirkt nach. Wertet mitunter das Gesagte auf. Es entsteht eine Atmosphäre im Raum, die berührt. Ein tiefer Dialog, der wie ein guter Duft wirkt und auch langfristig im Gedächtnis bleibt. Ich wünsche mir Menschen, die diese Fähigkeit wieder neu trainieren.