Die Medien zeigen häufig das Idealbild: Glückliche Familien auf der Terrasse, erfüllende Freundschaften, die bis zum Lebensende halten. Doch die Realität offenbart die Schwächen. Die eigene Begrenztheit läuft nicht wie im Film: Beziehungen scheitern.

Scheitern
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Drei rote Steckdosen

Immer wenn ich in die Küche im Gutshof gehe, werde ich an mein Scheitern erinnert. An der Wand leuchten drei knallrote Starkstrom-Steckdosen. Sie symbolisieren einen großen Traum, der geplatzt ist. Drei Fragezeichen, die jedes Mal, wenn ich den Raum betrete, die große Warum-Frage stellen: Warum ist unser gemeinsamer Traum gescheitert? Wenn ich gefragt werde oder nachts wachliege, muss ich zugeben: Ich weiß es nicht.

Die drei Steckdosen wurden erst kürzlich montiert und drücken die hohen Ambitionen unseres jungen Küchenchefs aus. Mit der ersten Steckdose sollte der Backofen betrieben werden, um morgens frische Brötchen zu backen. Die zweite war für die große Schneidemaschine, um für die Gäste leckeren Schinken zu schneiden. Die dritte als Reserve für eine weitere Spülmaschine. Doch die Maschinen sind abgeholt, die Küche verwaist. Die Fragen bleiben.

Ich habe lange überlegt, ob mein Blog der richtige Ort ist, um über das eigene Scheitern zu schreiben. Dann habe ich mich entschieden, meine eigenen Schwächen und Unsicherheiten ganz offen zuzugeben. Auch die Fragen, auf die ich keine Antworten finde.

Ich bin ein Menschen-Mensch

Über viele Jahre habe ich mich stark mit meinem eigenen Verhalten beschäftigt. In einer Fortbildung wurde mir klar: Ich bin ein Menschen-Mensch. Das bedeutet, die Beziehung zu anderen Menschen hat bei mir höchste Priorität. Vom Profil bin ich ein Ermutiger, der andere Menschen gerne fördert und auch unterstützt, damit das eigene Potenzial zur Entfaltung kommt.

Besonders gerne arbeite ich ehrenamtlich als Mentor, um junge Menschen auf ihrem Weg ins Berufsleben zu begleiten. Diese Gespräche genieße ich sehr und lerne mindestens genauso viel von den Mentees wie sie von mir. Über die Jahre habe ich bei meinen eigenen Vorbildern beobachtet, was einen guten Mentor auszeichnet: die richtigen Fragen zu stellen. Mehr zuhören, als selbst zu reden. Nicht ungefragt Ratschläge zu geben. Die Entscheidungen immer dem Mentee zu überlassen.

Dabei ist sind mir zwei Dimensionen besonders wichtig: Freiheit und Mündigkeit. Ich weiß, das sind zwei große Worte. Doch beide drücken für mich zentrale Werte aus. In meinen Beziehungen möchte ich dem anderen immer die Freiheit geben, sich völlig konträr zu meinen eigenen Vorstellungen zu entscheiden und zu verhalten.

„Zur Freiheit seid ihr berufen“ – dieses Zitat aus der Bibel leitet mich dabei an. Mündigkeit ist für mich die Zwillingsschwester der Freiheit. Ich möchte Menschen, mit denen ich eine Beziehung lebe, in ihrer Mündigkeit unterstützen, weitgehend unabhängig ihr Leben zu gestalten.

Scheitern: Wenn tiefe Trauer aufsteigt

Ich schaue auf die ungenutzten Steckdosen, deren Energie nicht mehr fließt. Sie erfüllen nicht mehr ihre Bestimmung, für die sie an die Wand montiert wurden. Sie wirken wie Elemente einer Kulisse, die nicht mehr gebraucht wird. Ich sitze da und könnte heulen, weil mein Herz nicht versteht, was wirklich passiert ist. Ich bin sprachlos, gelähmt vor Trauer und habe Mühe, meine wirren Gedanken zu sortieren.

Sachlich ist es schnell geklärt: Ihn April hat das junge Ehepaar, das seit Januar auf dem Gutshof lebt, die Kündigung eingereicht. „Es hat nicht gepasst“. Mein Verstand sagt: Okay, Freiheit und Mündigkeit werden gelebt. Aber da ist auch mein Herz, das die beiden liebt und sich an die glücklichen vier Monate erinnert. Jetzt steigt Trauer in mir auf und signalisiert, wie wichtig diese Menschen für mich sind. Wie tief ich sie in mein Herz gelassen habe. Wieviel Vertrauen entstanden ist.

In den Nächten der Trauer habe ich erlebt, wie Wut in mir aufsteigt: Warum habe ich nicht gemerkt, dass „etwas nicht passt“. War ich blind vor Liebe? Habe ich leise Signale übersehen? Wie bei einem Computer läuft in meinem Inneren ein Festplatten-Dienstprogramm, das nach Fehlern im System sucht. Doch dann erlebe ich – um im Bild zu bleiben – einen Beziehungs-Crash. Alle Versuche, die inneren Fragen zu klären, scheitern. Und ich merke: Mein Herz kommt nicht mit.

Wieviel Schmerz darf ich eingestehen?

Noch eine weitere Ebene wird mir deutlich: Wie verarbeite ich dieses Scheitern im Dialog mit Freunden und Nachbarn? Wie viel Offenheit ist gut? Wie viel Schmerz darf ich eingestehen? Ich merke, wie wichtig es ist, Menschen zu haben, die ich ganz nahe an mein Herz lasse. Denen ich auch meine Trauer zumuten kann. Menschen, die einfach zuhören, auch das Klagen ertragen. Meine Frau und ich erleben viel Trost, auch in unserer Ratlosigkeit.

Während der Corona-Krise haben wir unser gesamtes Team verloren. Wir mussten sechs Menschen wieder loslassen, die uns stark ans Herz gewachsen sind. In die Trauer mischt sich auch die Überforderung. Plötzlich ist niemand mehr da, weder im Büro noch in der Küche. Wenn Seminarteilnehmer kommen, müssen wir gleichzeitig alle möglichen Rollen zwischen Telefon, Computer und Spülmaschine erfüllen. Wie gut, dass Tanja, unsere treue Seele im Gästehaus, noch da ist.

Ich denke an das Gebet von Reinhold Niebuhr: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Das gilt auch für meine geplatzten Träume und die gescheiterten Beziehungen.

Die drei roten Steckdosen habe ich gedanklich neu sortiert: Sie erinnern mich an das Gute, das wir gemeinsam erlebt haben. Gleichzeitig freue ich mich auf die neuen Beziehungen, die kommen. Ich freue mich auf den Tag, wenn der Starkstrom wieder fließt.