“Seit März habe ich nur noch Chaos”, berichtet eine Selbständige diese Woche. Quarantäne, Homeschooling, abgesagte Termine – das alles erhöht den psychischen Druck. Da es bei vielen KMUs gerade ähnlich aussieht, möchte ich heute meine eigenen Erfahrungen mit Ihnen teilen.

Chaos
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Wenn Deutschland hochrot anläuft

Gestern schreibt mir eine Führungskraft: “Wir hatten eine zweite Welle erwartet, nicht aber, dass Deutschland komplett hochrot anläuft …” Ich glaube dieses Bild beschreibt sehr gut, den inneren und äußeren Druck, der auf vielen Unternehmern lastet.

Auch bei uns in der Gutshof Akademie häufen sich seit Wochen die Absagen, die besorgten Anfragen von Referenten und Seminarteilnehmern. Krisen-Management ist gefragt, nicht nur in Berlin, sondern auch in der Provinz. Das befeuerte die Medien und auch die Schlagzeilen. Die Spirale von Angst und Sorge dreht sich weiter.

Am Montag berichtet mir ein befreundeter Zahnarzt, dass er die Woche mit einem vollen Praxiskalender startet. Dann trudeln im Minutentakt die Absagen herein: Quarantäne, Angst und Unsicherheit. Lange geplante und auch notwendige Behandlungen werden verschoben- Die Mitarbeiter und zwei Ärzte sitzen mitunter rum und warten, statt zu bohren. Eine enorme Verschwendung von Ressourcen.

Wer braucht schon einen Buß- und Bettag?

Während ich diese Zeilen schreibe, steht im Kalender “Buß- und Bettag”. Ein Feiertag, den wir vor 25 Jahren abgeschafft haben, um die Pflegeversicherung zu finanzieren. Laut Wikipedia wurden “im Lauf der Geschichte Buß- und Bettage immer wieder aus aktuellem Anlass angesetzt. Angesichts von Notständen und Gefahren wurde die ganze Bevölkerung zu Umkehr und Gebet aufgerufen.”

Nun könnte man die aktuellen Empfehlungen der Regierung als “Aufruf zur Umkehr” interpretieren, um eine größere Not abzuwenden. Vielleicht sind die Einschränkungen auch ein Aufruf, um bewußt innezuhalten. Mir persönlich hilft es, an jedem Arbeitstag zuerst in die Kapelle des Gutshofes zu gehen. Der abgeschiedene Raum, die Kerze und das Gebet richten mich wieder aus – auf das eigentliche Ziel.

In der Stille wird mir bewußt: Ich bin nicht der Nabel der Welt, sondern nur ein Teil des Ganzen. Vor uns gab es schon zahlreiche Krisen. Auch unsere Eltern und Großeltern hatten Angst, in einer Form, die in unserer Wohlstandsgesellschaft heute nur schwer vorstellbar ist. Ihre Krisenzeiten waren geprägt von Diktatur, Bomben, Terror und Hunger.

Wie mich “Altes Land” wachgerüttelt hat

Sehr berührt hat mich in dieser Woche auch der ZDF-Film “Altes Land” nach einem Roman von Dörte Hansen. Obwohl er bereits vor Corona gedreht wurde, passt er sehr gut in die Emotionalität dieser Tage. Iris Berben spielt die Hauptrolle: Vera, die als Kriegsflüchtling im “Alten Land” ankommt.

Wer diesen Film über drei Generationen ansieht, merkt wie vergleichsweise “klein” unsere aktuelle Krise ist. Erschüttert hat mich der Bericht vom tausendfachen Sterben von Babys und kleinen Kindern auf der Flucht, darunter auch Veras Bruder. Es gab keine Chance, die Kinder zu begraben. Sie wurden am Straßenrand abgelegt und notdürftig mit etwas Schnee bedeckt. Mehr nicht.

In der ZDF Mediathek gibt es ein Interview mit der Regisseurin und Drehbuch-Autorin Sherry Hormann. Sie zitiert die Einleitung der Geschichte: “Dies Haus ist meins und doch nicht meins. Der nach mir kommt nennt es auch noch seins.”

Der eigenen Endlichkeit begegnen

Ich glaube, damit hat sie einen entscheidenden Punkt getroffen: Der Film führt uns die eigene Endlichkeit vor Augen. Genau wie auch die aktuelle Corona-Krise. Sherry Hormann: “Dir gehört nichts, du hast eine Aufenthaltserlaubnis, du kannst dich niederlassen. Aber nach dir kommen andere.”

Diese Einsicht ist der Gegenpol zum Mythos der ewigen Gesundheit, dem unsere Gesellschaft wie ein Götze huldigt. Für die Gesundheit wird vieles geopfert: Auch die Bewegungsfreiheit, die Kultur, die sinnliche Lust der Gastronomie. Ein befreundeter Professor wies mich vor wenigen Tagen auf das Calvinistische Element der Krise hin: “Alles was Lust macht, wird verboten”.

Diese Einschränkungen gefallen vielen von uns nicht, sie begrenzen unseren Radius und machen Angst. Doch Angst wovor? Dass es noch schlimmer kommt? Dass ich krank werde? Oder gar sterbe…

Jetzt ist es ausgesprochen. Es geht im Kern um die Angst vor dem Tod. Und ich kann verstehen, dass sich viele davor fürchten. In ihrer Ohnmacht, in ihrer Wut auf die Straße gehen und kämpfen. Gleichzeitig berichtet mein Freund, der als Notarzt in Frankfurt arbeitet, von den zahlreichen Totenscheinen, die er derzeit ausstellen muss. Ursache: Covid19.

Ein Sonntag, der an die Ewigkeit erinnert

Am Wochenende endet das Kirchenjahr. Ewigkeitssonntag nennen ihn die evangelischen Christen. Ein Tag der Erinnerung an die Menschen, die uns vorausgegangen sind. Die Vorfahren, die uns mit ihrer DNA, mit ihrem Leben, ihren Geschichten, ihrem Charakter geprägt haben. Ich denke an meine verstorbenen Eltern, an meine erste Frau, die bereits mit 37 Jahren “aus dem Leben gerissen wurde.”

Mich bewegt ein Satz, den sie vor ihrem Tod ausgesprochen hat: “Ich bin bereit zu gehen, ich habe mein Leben gelebt.” Dieser Satz rührt mich auch heute 22 Jahre danach immer noch zu Tränen. Er konfrontiert mich mit der zentralen Frage, die auch hinter der ganzen Corona-Krise steckt: Lebe ich mein Leben? Auch in der Pandemie?

Lebe ich meine Berufung – auch wenn um mich herum ein Gefühl von Angst und Chaos regiert? Für mich ist das jeden Tag eine neue Herausforderung. Die zweite Frage: “Bin ich bereit zu gehen?” Zugeben, dazu “Ja” zu sagen, fällt mir auch mit 59 Jahren immer noch schwer.

Herzliche Grüße

Rainer Wälde