Deutschland wirkt erschöpft: Auch die mit einem sicheren Job und einer warmen Wohnung scheinen zu einer “Mattigkeit verdammt” zu sein, wie die “Zeit” attestiert. Gleichzeitig fragen sich viele Menschen im Home-Office, ob sie genügend produktiv sind?

Müdigkeit
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Überforderung durch reale Abwesenheit

Es liegt eine Müdigkeit über dem Land, die der Soziologe Hartmut Rosa “Corona Mehltau” nennt. Mit diesem Begriff diagnostiziert er eine “Überforderung durch reale Abwesenheit.” Was auf den ersten Begriff paradox klingt, scheint mir eine sehr zutreffende Diagnose zu sein.

Am Samstag habe ich mit einer langjährigen Freundin gesprochen, die in einer Frankfurter Großbank arbeitet. Vom Dienstbeginn bis zum Feierabend ist sie fast pausenlos in irgendwelchen Online-Meetings. Den Mobilcomputer nimmt sie selbst auf die Toilette mit und drückt vorab die “Mute”-Taste, damit die anderen Teilnehmer die Wasserspülung nicht hören.

Eigentlich gibt es keinen Grund zu jammern, sie sitzt in einer warmen Wohnung und hat einen sicheren Job. Doch die soziale Energie fehlt, der Austausch mit den Kollegen, der Plausch in der Teeküche, am Kopieren. Die Energie im realen Raum, wenn sich Menschen begegnen.

Wenn menschliche Begegnung zum Risiko wird

Der Corona Mehltau lähmt Körper, Geist und Sinne. Wir sind soziale Wesen und brauchen die Nähe – deshalb leiden vor allem diejenigen, die seit 12 Monaten im Homeoffice isoliert sind. Hartmut Rosa, der Soziologe, nennt es einen “Prozess des inneren Austrocknens.” Es fehle uns “eine klare Idee von sozialer Energie”.

Doch die spannende Frage: Was hilft gegen diese Müdigkeit, zumal die menschlichen Begegnungen nach wie vor als Risiko gelten? Experten empfehlen, sich als ersten Schritt der eigenen Kraftlosigkeit hinzugeben. Hinhören, was die Müdigkeit zu sagen hat. Also mehr schlafen, statt zu hadern. Das klingt banal, stärkt jedoch das Immunsystem.

Ein zweiter Tipp aus meiner eigenen Erfahrung: Weniger online sein und mehr analog leben. Wer ohnehin den ganzen Tag alleine am Computer arbeitet braucht eine Musterunterbrechung. Ich persönlich unterdrücke dann den naheliegenden Impuls, in den sozialen Netzwerken “abschalten” zu wollen. Zu oft habe ich gemerkt, dass dies meinen Frust und die innere Unzufriedenheit erhöht. Stattdessen lese ich lieber ein gebundenes Buch und lasse meinen Kindle links liegen.

Persönliche Rituale gegen die Stagnation

Die soziale Isolation sorgt auch für eine innere “Heimatlosigkeit”. Deshalb habe ich einige Rituale in meinen Arbeitsalltag integriert. Dazu gehört das irische Morgengebet, das ich mit meiner Frau seit 10 Jahre an jedem Werktag praktiziere. Ich genieße die kleinen und großen Spazierwege im Dorf und versuche grundsätzlich auch mit jedem Bewohner, den ich zufällig treffe, einen kleinen Smalltalk zu halten.

Wenn es irgendwie geht, greife ich täglich zum Hörer, um Kunden und Freunde anzurufen. Fragen, wie es ihnen gerade geht, was sie lesen, was sie bewegt, wie sie mit ihrer eigenen Müdigkeit umgehen. Das praktiziere ich auch mit der Kassiererin im Supermarkt oder den Mitarbeitern, die gerade Regale einräumen. An der Tankstelle oder bei der Physiotherapie.

Etliche Gespräche bieten mir auch eine Chance zur Inventur: Im Dialog mit meinem Gegenüber erkenne, was unwichtig und was wirklich relevant ist. Ich freue mich über Geistesblitze und Anregungen, die sich plötzlich im Gespräch ergeben. Gleichzeitig mache ich mich nach einem Jahr Pandemie auch nicht mehr verrückt, wenn ich an einem Tag nicht sonderlich produktiv war. Auch das darf sein.

Nun bin ich gespannt auf Ihre Erfahrungen. Schreiben Sie mir eine kurze Rückmeldung – per Mail oder in den Kommentaren.