Ich telefoniere mit einer Kollegin, mit der ich etliche Jahre Fernsehen gemacht haben. Wir diskutieren über den Vorwurf von Fake News und über unsere beruflichen Erfahrungen in den Medien. Sie war in der Redaktion des ZDF tätig. Dabei entsteht die Idee zu diesem Insider-Beitrag: Wie arbeiten eigentlich Journalisten? Wie objektiv können Medien überhaupt sein?

Fake News
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Mein Selbstverständnis als Journalist

Seit 45 Jahren bin ich in unterschiedlichen Medien unterwegs: Bereits mit 14 Jahren habe ich bei Freiburg eine Schülerzeitung gegründet. An meinem 18. Geburtstag erschien mein erster Artikel in der “Badischen Zeitung”. Über viele Jahre habe ich als studentischer Reporter für die Regionalpresse gearbeitet.

Ich hatte das Glück, dass der Chefredakteur meine Begabung erkannte und mich aktiv gefördert hat. Er wusste schnell, welche Pressetermine der junge Wälde übernehmen konnte und führte mich in die Kunst des Blattmachens ein. Später dann beim Radio wurde mir klar, welche Verantwortung ich als Redakteur am Mikrophon habe, wenn ich auf Sendung bin. Das hat sich auch in den ersten Jahren beim Fernsehen verstärkt. Mir wurde bewusst, dass ich “Anwalt des Zuschauers” bin. Ich stelle die Fragen die der Leser, Hörer, Zuschauer selbst nicht stellen kann. Bin sein Stellvertreter.

Über die letzten 30 Jahre habe ich etliche junge Journalisten und Filmemacher ausgebildet und sie in ihrer Identität und Verantwortung gestärkt. Mein Selbstverständnis: Ich bin subjektiv, betrachte die Welt durch meine Augen. Bereits mein Kollege hat eine ganz eigene Sicht. Nur im Zusammenspiel der Medien und der Macher ergibt sich ein Gesamtbild der Informationen.

Wie entsteht eine Nachricht?

Um praktisch zu illustrieren, wie Medien arbeiten, möchte ich kurz die Arbeitsweise beschreiben. Als Beispiel nehme ich die Corona-Proteste in Stuttgart: Mehrere Kollegen von unterschiedlichen Medien sind vor Ort. Die Print-, Radio- und Online-Journalisten sind jeweils alleine unterwegs, die Fernsehmacher meist in Teams von drei Personen. Jeder von ihnen soll einen Bericht produzieren. Die Reporter sammeln “O-Töne”, also kurze Statements von den Protestierenden: “Warum sind Sie hier? Gegen was protestieren Sie?” Niemand weiß vorher, was die Interviewten sagen werden. Es ist Zufall und Glück die “passenden” O-Töne zu bekommen. Doch was ist passend?

Hier liegt es an der Ethik und am Selbstverständnis jedes einzelnen Reporters, keine manipulativen Fragen zu stellen. Gleichzeitig soll ein repräsentativer Querschnitt entstehen, der möglichst viele gesellschaftliche Gruppen zeigt. Auch die Auswahl ist ein subjektiver Vorgang. Entscheidend ist nicht nur, was gezeigt wird, sondern auch welcher Satz weggelassen wird.

Manche Demonstranten sind genervt, wenn sie ein Kamerateam sehen und brüllen “Lügenpresse”. Sende ich das? Oder lasse ich es weg? In diesem subjektiven Vorgang der Auswahl muss ich streichen, kürzen, redigieren. Aus einer Veranstaltung von drei Stunden habe ich am Schnittplatz vielleicht 60 Minuten Material. Doch in der Sendung nur 90 Sekunden Zeit. Sie merken schon, wie stark es hier auf die Professionalität des Reporters ankommt. Was nimmt er in den Kommentar? Welches Bild zeigt er? Doch das Meiste lässt er weg, weil es keine Live-Übertragung, sondern nur ein kurzer Beitrag in der Sendung ist.

Wer überprüft die Nachricht?

Innerhalb der Medien gibt es klare Kontroll-Ebenen: Der Chef vom Dienst überwacht den ganzen Tag die Nachrichtenlage, überprüft den Ticker der Nachrichtenagentur, verfolgt die Berichte der anderen Medien. Bevor er den Bericht “seines” Reporters sieht, hat er häufig schon die Meinungen der anderen mitbekommen. Nun schaut er sich den Bericht an und prüft diesen auf handwerkliche und soweit möglich auch auf inhaltliche Fehler. Dann wird nochmals redigiert und korrigiert. Der Moderator schaut sich den Beitrag an, schreibt dazu seinen eigenen Text und setzt den Rahmen. Auch das ist natürlich subjektiv, er war gar nicht vor Ort.

Die Redaktion trägt eine große Verantwortung, das wurde auch in der Corona-Krise sichtbar. Ich habe zuletzt von Gundula Gause berichtet, die beim “heute journal” arbeitet. Mit ihren Kollegen arbeitet sie extrem sorgfältig, weil ihr bewusst ist, welche gravierenden Auswirkungen ein Fehler haben kann. Doch in der aktuellen Berichterstattung passiert trotz aller Prüfungen genau das: Ein Beitrag ist zu spät fertig geworden, ein Korrespondent der nochmals die Fakten checkt, gerade nicht erreichbar. Senden oder rausschmeißen – sind ethische und handwerkliche Fragen, die täglich tausendfach gestellt und entschieden werden.

Gleichzeitig ist seriöser Journalismus immer auch eine Frage des Budgets. “Die Zeit” kann es sich leisten, für einen halbseitigen Artikel über die Corona-Proteste am 9. Mai gleich neun Redakteure zu aktivieren. Warum so viele? Damit niemand vorwerfen kann, “Die Zeit” hätte “einseitig” berichtet. Doch viele regionale Medien sind personell schwach besetzt, sie können sich, wenn überhaupt nur einen Berichterstatter leisten.

Alles was in der Tageszeitung, Radio, Fernsehen oder online publiziert wird, steht vor der entscheidenden Prüfung durch die Nutzer. Jeder, der selbst vor Ort war, ist ein potentieller Kritiker. Das bestätigt auch Sylke Grede, die seit 25 Jahren für die HNA in Nordhessen berichtet. Dieser Realitätscheck der Leser ist ein täglicher Abgleich. Was aus ihrer Sicht nicht stimmt, wird per Leserbrief oder Telefon mitunter auch deutlich kritisiert. Doch erfreulicherweise haben in diesem Jahr die wertschätzenden Rückmeldungen zugenommen, wie Sylke Grede berichtet. Mehr Leser als in den Vorjahren signalisieren ihre Dankbarkeit über die Berichterstattung.

Fake News oder Fakten: Was ist Wahrheit?

Die Kernfrage meines heutigen Beitrags bleibt: Was ist Wahrheit? Wenn Sie 10 Personen fragen, bekommen Sie vermutlich 10 Antworten. Weil jeder Menschen Wahrheit anders definiert. Die Autoren der Wikipedia formulieren es so: “Gemeinhin wird die Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt, einer Tatsache oder der Wirklichkeit im Sinne einer korrekten Wiedergabe als Wahrheit bezeichnet.”

Zurück zur Corona-Demonstration: Jeder Teilnehmer hat seine subjektive Wahrheit, je nachdem wo er stand und wie gut er beispielsweise die Redner auf dem Podium sehen und verstehen konnte. Doch stimmt diese mit den Beobachtungen des Reporters überein, der vielleicht direkt hinter dem Redner auf der Bühne stand?

Dazu der aktueller Brief eines Bloglesers, der mich am Wochenende erreichte: “Es fiel mir auf, dass ARD, ZDF, MDR, RTL, Pro7, Kabel 1 und andere genau das Gleiche berichteten: Was sich jedoch nicht mit meiner Wahrnehmung vom Tag deckte. Das gesprochene Wort der Moderatoren und die Bilder passten nicht meinen Erlebnissen zusammen: Lediglich der Sender Arte hat mich sehr positiv überrascht und das berichtet, was ich wahrgenommen und gesehen habe.”

Wenn die Lage unübersichtlich ist

Nun kommen wir zur Beurteilung: Sind diese Sichtweisen dann “Fake News” oder einfach zwei unterschiedliche Blickwinkel? Manipulieren die Medien, wenn sie über eine Veranstaltung anders berichten, als ich dies wahrgenommen habe? Oder ist die Lage einfach unübersichtlich und der Stand der Erkenntnisse täglich anders, wie “Die Zeit” ganz offen zugibt?

Sie merken an dieser Stelle, wie stark es auf die persönliche Einstellung jedes einzelnen Mediennutzers ankommt. Deshalb verfolge ich als Journalist jede Woche unterschiedliche Medien, vergleiche die Sichtweisen, bilde mir mein eigenes Bild. Als Journalist bewerte ich und selektiere. Genau wie der Blogleser, der mit der Berichterstattung von Arte übereinstimmte.

Gleichzeitig versuche ich die aktuellen Vorgänge einzuordnen: Gibt es eine Parallele zwischen den Protesten in der Flüchtlingskrise 2015 und den Demonstrationen 2020? Erst im Zusammenspiel der einzelnen Medien ergibt sich für mich ein klareres, aber immer noch bruchstückhaftes Bild.

Beim latenten Vorwurf der “Fake News” suche ich nach Fakten: Wer sind die Hauptakteure, die aktuell Meinung machen und verunsicherte Bürger sammeln. Mich beunruhigt, dass einflussreiche Verschwörungserzähler einen antisemitischen Hintergrund haben, wie die “Welt am Sonntag” am 17.05.2020 berichtet. Welche Agenda verfolgen sie? Wollen Sie nur Reichweite gewinnen oder unsere Gesellschaft destabilisieren?

Wie Sie 2020 selbst die Medien mitgestalten

Ich persönlich bin sehr dankbar, in einer Demokratie zu leben und genieße auch die vielfältigen Meinungen. Mich begeistert, dass viele Menschen miteinander diskutieren und ihre Sorgen auch artikulieren. Heute kann jeder von uns bei YouTube seinen eigenen “Sender” starten und die öffentliche Meinung mitgestalten.

Auch die klassischen Medien leben von der Beteiligung ihrer Kunden: Ein Zuschauerbrief an den Sender steht für die Meinung von mindestens 1.000 Zuschauern. Deshalb ermutige ich Sie heute: Schreiben Sie Leserbriefe an Ihre Tageszeitung. Teilen Sie Ihre Meinung mit. Machen Sie Themenvorschläge, weisen Sie die Redaktion auf interessante Gesprächspartner und Initiativen hin.

Fangen Sie an, Ihren eigenen Blog zu schreiben und erzählen Sie, welche Beobachtungen Sie als Unternehmer machen. Nutzen Sie Ihre Stimme, um Ihre Kunden und Mitarbeiter persönlich zu informieren. Diskutieren Sie aktiv auch in den sozialen Netzwerken mit und prüfen Sie kritisch die Absender und Quellen: Wer verfolgt mit dieser Nachricht welche Absicht?

Auch in meinem nächsten Webinar geht es um das Thema Medien: Wenn Sie sich mit anderen Selbständigen und Führungskräften persönlich über Ihre Erfahrungen austauschen wollen, lade ich Sie herzlich ein: Mittwoch, 27. Mai ab 17 Uhr dreht sich alles um die Presse. Gerne zeige ich Ihnen ganz praktisch, wie Sie mit Ihren Themen und Geschichten mediale Aufmerksamkeit erzeugen und Zugang zu den Medien finden.