In den letzten Jahren kamen etliche Zweifel auf, ob den Leitmedien noch zu trauen ist. Immer mehr Bürger fühlen sich mit ihrer Meinung als Außenseiter. Werden die Medien vielleicht doch vom Staat gelenkt?

Richard David Precht und Harald Welzer – Foto: Debora Mittelstaedt

Eine irritierende Übereinstimmung der Berichterstattung

Während der Pandemie habe ich in diesem Blog schon etliche Mal die Rolle der Medien reflektiert. Als langjähriger Journalist in Zeitung, Radio und Fernsehen beobachte ich einen Wandel, der mitunter nur schwer zu beschreiben ist. Mit großem Interesse habe ich das neue Buch „Die vierte Gewalt“ gelesen, in dem Richard David Precht und Harald Welzer ihre Sicht der Medien beschreiben. Precht – selbst langjähriger Liebling der Medien und häufig geladener Gast in zahlreichen Talkshows – beschreibt, wie er den Wandel der Medien erlebt. 

Um es vorweg zu nehmen: Das neue Buch – Platz 1 auf der Spiegel Bestseller Liste – ist ein harter Schlag in die Magengrube. Kein Wunder, dass etliche Medienvertreter es schon verurteilt haben, bevor sie es überhaupt gelesen hatten. 

Precht und Welzer benennen ganz klar die Irritation von Millionen von Bürgern gegenüber der „Berichterstattung deutscher Leitmedien von taz bis Bild. Sie spannen dabei einen weiten Bogen von der Flüchtlingskrise 2015 zur Pandemie bis hin zur Ukraine Krise 2022. 

Was die beiden Autoren in allen drei Krisen beobachten ist eine „höchst irritierende Übereinstimmung in der Berichterstattung.“ Darauf hatte ich bereits zu Anfang der Pandemie in meinem Blog hingewiesen.

Viele Bürger fühlen sich nicht mehr repräsentiert

Anhand von wissenschaftlichen Untersuchungen belegen sie nun konkret, dass es in dem Medien eine sogenannte „Repräsentationslücke“ gibt. Sie entsteht, weil viele Bürger, sich weder von Parteien, noch Medien repräsentiert fühlen. 

Das Dilema beginnt im Deutschen Bundestag, der nahezu 100 Prozent von Akademikern besetzt ist, während „in der Gesamtbevölkerung nur ein Drittel einen Hochschul- oder Fachhochschul-Abschluss besitzen.“ 

15 Prozent sind Anwälte, insgesamt 109 Abgeordnete, dann kommen Wissenschaftler, Lehrer, Bankkaufleute, Unternehmensberater. Ganz am Ende stehen 5 Krankenpfleger, 4 Erzieher und 4 Landwirte. Arbeiter, Paketboten, Reinigungskräfte – Fehlanzeige. Aber auch Unternehmer – der deutsche Mittelstand sind mit 1,4 Prozent – nur minimal repräsentiert. 

Bei dieser Zusammensetzung „bedarf es eines für die Demokratie sorgentragenden professionellen Journalismus, der die Repräsentationslücke zu verkleinern suchen müsste.“ Doch diese Pluralität – so die Autoren – kommt auch in den Medien nur am Rande vor.

Wenn über Politiker statt über die Helfer berichtet wird

Beispiel 1: Flüchtlingskrise. Zwei umfangreiche Studien, die über 20 Wochen rund 4.000 Berichte ausgewertet haben, belegen: „Die eigentlichen Hauptakteure – Helfergruppen, Einrichtungen, freien Träger und Initiaten, die sich, viele freiwillig, in erster Linie um Flüchtlinge kümmerten“, kamen in den Medien nur als kleine Randnotiz vor: 3,5 Prozent. Die Hauptbetroffenen Flüchtlinge: 4 Prozent. 

Stattdessen berichteten die führenden Medien vor allem über die „naturgemäß weit entfernten Spitzenpolitiker eine Art Helikopterperspektive“. In der „Öffentlichkeit der überregionalen Tageszeitungen“ – so Precht und Welzer – „fand das Geschehen dagegen weitgehend ohne Helferinnen und Helfer, Dorf- und Grenzregionbewohner, … Nachbarn, statt.“ 

Die beiden Autoren bringen das Dilemma auf den Punkt: Sie nennen die mangelnde Berichterstattung über Flüchtlinge und Helfer „eine soziale Entleerung, man könnte auch sagen Entlebendigung eines Geschehens, das für viele Monate die ganze Gesellschaft betraf.“ 

Warum fokussieren sich die Medien auf die politische Elite?

Nun könnte diese Berichterstattung 2015 eine Ausnahme sein. Doch die Mainzer Forschungsgruppe um Professor Marcus Mauerer belegt auch in der Corona-Pandemie ein ähnliches Muster. „Relativ selten kamen dagegen Betroffene in der Berichterstattung vor, also Menschen, die selbst oder deren Angehörige an Covid19 erkrankt oder gestorben sind: 1,2 Prozent.“

Das heißt der Wert der eigentlich Betroffenen ist noch deutlich geringer als in der Flüchtlingskrise. „Ähnlich selten wurden Corona-Skeptiker in den Medien erwähnt: 1,6 Prozent.“ Die höchste Aufmerksamkeit bekamen die Politiker: 47 Prozent und Wissenschaftler: 19 Prozent der Medienberichte.

Ich finde beide Untersuchungsergebnisse sehr spannend, weil ich schon während der Pandemie ein starkes Störgefühl über die Berichterstattung von ARD, ZDF und den führenden Printmedien hatte. 

Warum nehmen die Leitmedien nicht ihren Auftrag wahr, den „Unterrepräsentierten“ – im genannten Fall den eigentlich Betroffenen – eine Stimme zu geben? Warum verspielen etliche Medien das Vertrauen ihrer Nutzer, die sie monatlich finanzieren? Das macht auch wirtschaftlich keinen Sinn.

Der Zuschauer hat wenig Einfluss

Precht und Walzer nennen dieses Problem „Unmarked Space“: „Dabei gehören das, was wir beobachten, und das, was wir nicht sehen, auf das Engste zusammen.“ Medial gesprochen: Was kommt ins Licht, was bleibt im Dunkel?  

Nun gibt es ein zentrales Problem: Der Gebührenzahler bei ARD und ZDF hat wenig Einfluss auf das Programm. Er kann im ZDF Fernsehgarten zwar mitklatschen oder bei einer ARD Schlagerparty mit Florian Silbereisen sein Feuerzeug hochhalten. Doch auf die eigentliche Berichterstattung hat er keinen Einfluss. Ähnlich sieht es bei den Printmedien aus. Bis auf Leserbriefe – wenig Chance.

Die „Heilbronner Stimme“ hat das Problem vor Jahren erkannt und alle festangestellten Mitarbeiter motiviert – auch jene, die nicht in der Redaktion arbeiten – vor Ort die Themen aus dem Dunkeln ins Licht zu bringen, über die in den jeweiligen Dörfern gesprochen wird.

Für alle verborgenen Themen gibt es ein Intranet, in dem jeder Mitarbeiter seine Geschichten laienhaft notieren kann – als Recherche-Vorlage für die Redaktion. Ein guter Ansatz, der bereits mehrfach prämiert wurde. 

Die selektive Blindheit der Medien

Doch in vielen Medien – Precht und Welzer – herrscht die „selektive Blindheit. Die verstärkt sich und beschleunigt die Vereinseitigung der Perspektive.“

Viele Journalisten – und jetzt kommen wir zum Kern des Problems – leben in einer konstruierten Realität, die wiederum von der Realität ihrer Kollegen bestärkt wird. „Besteht über ein Thema Konsens in der politischen Elite, unterstützen die Medien die Regierungslinie kritiklos oder schweigend.“

Dieser Ansatz stammt von dem Kommunikationswissenschaftler Dr. Uwe Krüger und jetzt kommt der entscheidende Punkt „Eine starke Homogenität in der Meinung bracht weder Anweisung noch einen Druck von oben.“ Im Gegenteil: Er entsteht aus Angst vor Abweichung aus dem Gruppendenken.

Die Meinung des anderen stehen lassen

An dieser Stelle möchte ich gerne ein persönliches Beispiel aus meinem engsten Freundeskreis erzählen. Während der öffentlichen Diskussion über Impfpflicht haben sich auch bei uns Parteien gebildet: In mehreren Freundesgruppen gab es Befürworter und Kritiker.

Einige Zeit waren die Auseinandersetzungen so stark, dass wir dachten, es würde die langjährigen Gruppen spalten. Aus und vorbei – die Kluft schien nicht mehr heilbar. Eine Gruppe von Freunden, mit den wir uns schon seit 12 Jahren monatlich treffen, setzte ganz aus.

Doch beide Fraktionen ließen die Meinung des anderen stehen – hielten die Spannung aus. Wir sind glücklich, dass uns der Disput nicht getrennt hat, sondern wir daran gereift sind.

Diese Spannungsbereitschaft habe ich in der medialen Diskussion vermisst. Es gab eine öffentliche Meinung: Vom Gesundheitsminister bis zu der Tageszeitung: Jeder muss sich impfen lassen. Außerhalb der Blase wurde diffamiert und ausgegrenzt: Wer das nicht macht, handelt unverantwortlich, riskiert Leben – so das Narrativ. 

Mittlerweile sehen zahlreiche Politiker, Wissenschaftler und auch Bürger das Corona-Thema deutlich entspannter. Als Gesellschaft haben wir zwei Jahre gemeinsamer Lernerfahrung hinter uns. Doch die mediale Aufarbeitung und auch die kritische Bewertung der Rolle unserer Leitmedien in der Pandemie vermisse ich bis heute.

Fortsetzung: Wenn Medien die Politiker vor sich hertreiben

In der nächsten Woche gibt es einen zweiten Teil: Dann geht es um die These von Precht und Welzer, dass in der Ukraine-Krise Medien und Politik die Rollen gewechselt haben. Die Leitmedien berichten nicht nur über die politischen Akteure, sondern greifen aktiv als “vierte Gewalt” in das Geschehen ein. Außerdem eine öffentliche Entschuldigung von Welzer in der Causa Christian Wulff.

https://www.gutshof-akademie.de/akademie/weiterbildung/marken-gold/