Der New Yorker Fotograf Vincent Peters gehört zu den Stars der internationalen Fotoszene. Durch einen Post bei Instagram habe ich von seinem Workshop in Venedig erfahren. Da ich seine Arbeiten sehr schätze, habe ich die Chance genutzt und bin am Wochenende dorthin gefahren.

Vincent Peters
Vincent Peters – Foto: Rainer Wälde

Ikonen der Fotografie

Vincent Peters ist nicht nur ein Star der weltweiten Fotoszene, sondern auch das Highlight des diesjährigen Venezia International Photo Festival. Aus der ganzen Welt sind Fotografen angereist, um sich im Kulturzentrum San Servolo weiterzubilden.

Mit 20 Fotografen ist der Workshop von Peters seit Wochen ausgebucht. Zum Auftakt hält er eine dreistündige Vorlesung mit den besten Fotos seiner Kariere. Manche sind zu bekannten Ikonen der darstellenden Kunst geworden.

Vincent Peters ist ein großer Fan des klassischen Hollywood-Kinos. Er liebt die epischen Schwarzweißfilme der großen Cinematographen, den Look des “Cinema Noir”. All das ist in seinen Arbeiten gut zu erkennen.

Für mich ist er ein Licht-Zauberer, der ähnlich wie Christian Dior die Frauen nicht nur mit edlen Stoffen, sondern mit einem magischen Licht umschmeichelt.

Wo ist die unbekannte Straße?

Die Studenten lädt er ein, im Sinne von Robert Frost “The Road not taken” zu suchen. Die Straßen zu finden, die noch nicht oder nur wenig befahren sind. Er selbst habe als Kind nur zwei Berufswünsche gehabt. Eine kurze Phase, Ritter werden zu werden. Doch schon als 10jähriger sei ihm klar gewesen, dass er Fotograf werden wolle.

Es folgt eine spannende Reise durch Philosophie und Kulturgeschichte: “Wenn mein Foto ein Charakter wäre, wäre er dann ehrlich oder manipulativen? Will mein Foto beeindrucken oder verführen? Wenn mein Bild Musik wäre, welche Melodie würde es spielen?”

Vincent Peters betont, dass es nicht um das Bild an sich, sondern immer nur um das Gefühl des Betrachters geht. Wie drücke ich den Charakter eines Menschen in einem einzigen Bild aus, das berührt? Vielleicht empfinde ich ein Gefühl, das auch der Fotograf hatte und fühle mich verstanden?

Im Leben packen immer andere dein Gepäck

Neben der Selbstoffenbarung, die in jedem Bild steckt und sehr viel über den Künstler verrät, betont Peters auch die Katharsis: Der Betrachter durchlebt und durcharbeitet etwas eigenes, manche Fotos lösen eine innere Abwehr aus: Die Bilder konfrontieren mich mit einen anderen Identitätskonzept. Sie konfrontieren mich auch mit dem eigenen Schatten.

“Im Leben packen immer andere dein Gepäck”, betont Peters. “Beim Fotografieren hole ich immer etwas aus meinem Gepäck und finde mehr über mich heraus.”

Vincent Peters ermutigt dazu, mit den fotografischen Arbeiten gegen den Strom zu schwimmen, um zu Quelle der eigenen Identität zu gelangen. Das sei mitunter sehr anstrengend, aber für die eigene Persönlichkeitsentwicklung sehr erhellend.

Nach drei Stunden Vorlesung bin ich zutiefst inspiriert. Ein Satz des großen Fotokünstlers Richard Avedon begleitet mich in den Abend: Ich weiß nicht was du gemacht hast, aber ich fühle die Wahrheit.

Viktoria Yarova – Foto: Rainer Wälde

Großes Kino mit Vincent Peters am Markusplatz

Tag 2 beginnt später als erwartet. Statt wie geplant um 9 Uhr loszulegen, erscheint Vincent Peters erst um 11 Uhr. Kein Wort der Entschuldigung. Stattdessen eine zweite Vorlesung im Hof der Antiken Skulpturensammlung direkt am Markusplatz von Venedig.

Während Peters doziert, bauen seine Assistenten im Hintergrund ein großes Hollywood-Set auf. Ein riesiger Filmscheinwerfer beleuchtet eine überdimensionale Marmorstatue. Die Szene erinnert an King Kong und den Kampf an der Freiheitsstatue. Ein mutiges Mädchen in einer überdimensionierten Robe kämpft am Fuße des Kolosses um Haltung, während eine Windmaschine nicht nur Kleid in Aufwallung bringt.

Das Modell Viktoriia ist eigens aus der Ukraine angereist. Sie lebt in Kiew und reist nach dem Shoot auch wieder ins Kriegsgebiet zurück. Eine starke Persönlichkeit, die ihre Rolle als Amazone mit großer Energie ausfüllt.

Während alle auf das letzte Finish der Maskenbilderin und des Hairstylisten warten, nutze ich die Zeit, um ein sehr persönliches Portrait von Vincent Peters aufzunehmen.

Wenn Führungskräfte nicht leiten wollen

Neben der großen Choreografie des New Yorker Meisters entwickelt sich ein Phänomen, das ich als langjähriger Journalist von Pressekonferenzen kenne. Vincent Peters holt seine Kamera hervor. Neben ihm, vor und hinter ihm bildet sich eine Traube von 20 Photografen, die zeitgleich mit ihm das selbe Motiv aufnehmen. Rudelshooting nennt man das im Fachjargon. Was im TV üblich, gilt in der Fotografie als Tabubruch erster Klasse.

Ein gutes Portraitfoto entsteht im 1:1 Dialog, im Schutzraum zwischen Modell und Fotograf. Das weiß jeder der Anwesenden. Peters selbst hat die Regel ausgerufen, kleine Gruppen zu bilden, in denen immer nur ein Fotograf arbeitet. Doch niemand hält sich daran und er setzt sie auch als Leiter nicht durch.

Damit sind wir bei einem Dilemma, das nicht nur in der Politik für Verdrossenheit sorgt. Wahlversprechen, die nicht umgesetzt werden. Chefs in Firmen, die Regeln aufstellen, aber nicht leben. Wasser predigen und Wein saufen.

Chaos führt zur Krise – auch in einem Workshop

Leider kippt auch in unserem Workshop sehr schnell die Stimmung. Man kann zusehen, wie schnell Frust und Chaos zunehmen. Ein Sozialexperiment mit traurigem Ausgang. Am Anfang gründen sich schnell vier Gruppen, doch es fehlt die Autorität des Workshopleiters. Es gibt keine Leitung, keine Zeitvorgabe, wer wie lange mit wem? Ganz anders als bei seinem berühmten Kollegen Greg Gorman, mit dem ich vor zwei Jahren ebenfalls in Italien war.

Ich starte drei Versuche, mit den Fotomodellen und unserer Gruppe. Ohne Erfolg. So läuft Tag 2 in einer chaotischen Schleife von Rudelshootings. Alle Goldenen Regeln der Zunft außer Kraft gesetzt. Die Modelle bewegen sich statt im Schutzraum wie Blätter im Wind vor 20 Kameras.

Bereits am Nachmittag setzen sich etliche Kollegen von diesem würdelosen Treiben ab. Frustrierte Grüppchen bilden sich im Café. Am Abend des zweiten Tages ist klar: Etliche von uns können und wollen so nicht weiter arbeiten.

Alexandra Kvackaj – Foto: Rainer Wälde

Ich fühle die Wahrheit

Wie war das mit Avedon und der Wahrheit? 20 Fotografen – etliche Profis, auch der Fotograf des englischen Königshauses ist mit dabei. Wir wollen von Vincent Peters lernen, neue Wege ausprobieren, am eigenen Stil arbeiten.

Doch ein respektvoller Umgang miteinander und den Modellen ist in diesem chaotischen Format ohne Leitung unmöglich. Drei aus unserer Gruppe emigrieren und gehen auf eigene Faust nach Venedig. Ich gehöre ebenfalls dazu. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von drei Fotografen und ihrem Modell Alexandra ziehen wir durch die Stadt.

Tag 3 wird zu einem glücklichen Tag – ohne den Star aus New York, aber mit Respekt und Rücksicht füreinander. Jeder von uns entwickelt in seinem Stil eigene Bildideen, kleine Szene und Geschichten, die wir ohne großes Hollywood-Licht umsetzen.

Als wir einander die Bilder zeigen, ist die Wahrheit, die Verletzlichkeit des Moments zu spüren. Am Abend fahren wir glücklich zurück und treffen ein letztes Mal Vincent Peters.

Bilder sind wie Zeitreisen

Wir sitzen im Café in der Abendsonne und genießen unseren Cappuccino. Zum ersten Mal sprechen wir mit dem deutschen Peters nicht auf Englisch, sondern in unserer Muttersprache. Wir erklären ihm das Dilemma. Aus unserer Perspektive ist er ein Leiter, der nicht leiten will.

Vincent nimmt sich das Feedback zu Herzen: “Ich habe keine Lust wie ein Lehrer im Landschulheim zu agieren”, sagt er. Doch was passiert, wenn ich im Laisser-faire alles laufen lasse? Ich persönlich bin überzeugt, dass er mit seinem Stil auch die eigene Marke beschädigt. So wie es ein reifer Fotograf beim Frühstück ausdrückte: “Vincent Peters was a disappointment” – eine große Enttäuschung.

Für mich persönlich war es das nicht. Ich habe trotz des Chaos am zweiten Tag sehr viel für meine fotografische Arbeit mitgenommen. Besonders zwei Sätze bleibt bei mir nachhaltig hängen: Bilder sind wie Zeitreisen. Wenn du unsicher bist, ob du dein Bild jemand zeigen sollst, ist es vermutlich ein sehr gutes Bild.

Ich bin sehr gespannt auf die nächsten Fotoshootings mit jungen Talenten und lebensreifen Senioren. Und auf die gemeinsamen Zeitreisen.