Selten hat ein Artikel von mir so starke Emotionen ausgelöst, wie mein Beitrag in der letzten Woche: Hass und Ablehnung, aber auch Dankbarkeit. Ich suche für mich nach plausiblen Erklärungen und stoße auf die Angst vieler Menschen. Gibt es eine vergessene Mittelschicht, deren Stimme durch die Corona-Krise zunehmend lauter wird? Wenn ja, sollte sie von der Politik und den Medien dringend wahrgenommen werden.
Das Ende der Illusionen
In den letzten Wochen beschäftige ich mit den Studien von Professor Andreas Reckwitz, der für seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet wurde. Kurz vor der Corona-Krise erschien sein neues Buch “Das Ende der Illusionen”. Ich kann es allen Politikern und Führungskräften empfehlen, die nach Antworten im aktuellen gesellschaftlichen Umbruch suchen.
Professor Reckwitz beschreibt, dass die “vermeintliche Grenzenlosigkeit heute massiv in Zweifel gezogen wird.” Nach seiner Beobachtung folgt “auf die grenzenlose Euphorie offenbar umstandslos eine Stimmung der tief empfundenen Ausweglosigkeit (die bei manchen mit einer klammheimlichen Freunde angesichts des vorgeblich bevorstehenden Desasters einherzugehen scheint).”
Nun stecken wir in einer globalen Krise und Reckwitz ermutigt, die Illusionslosigkeit als Tugend zu sehen, “die einen nüchternen Realismus ermöglicht und Raum für die Analyse öffnet.”
Die neue urbane Mittelklasse
Um den aktuellen Konflikt zu verstehen, den ich auch in der aufgeheizten Diskussion um meinen Beitrag in der letzten Woche erlebt habe, müssen wir kurz über den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre sprechen.
Nach der Beobachtung von Andreas Reckwitz hat sich eine “neue, urbane Mittelklasse von hochqualifizierten Akademikern zum neuen Leitmillieu der Gesellschaft avanciert.” Sie haben hohe Ambitionen, gestalten aktiv ihren Alltag und auch ihre Biografie. “Das was früher Normalmaß war, gilt heute noch nicht einmal mehr als Durchschnitt”.
In meinem Video habe ich letzte Woche über den Mythos “Es muss immer mehr sein, höher, weiter und schneller” berichtet. Doch diesen Gewinnern stehen unweigerlich Verlierer gegenüber. “Sie werden abgewertet, bleiben unsichtbar im Hintergrund und erhalten, wenn überhaupt, nur minimale Anerkennung”, so Reckwitz.
Der Abstieg der bisherigen Leistungsträger
Der Soziologe Reckwitz vergleicht diese Entwicklung mit einem Paternoster: Während die neue Mittelklasse aufsteigt, steigt der alte Mittelstand ab. Ein Kern des Problems liegt dabei in der digitalen Welt. Der Soziologe zeigt eine “fundamentale Asymmetrie auf: zwischen jenen, die Aufmerksamkeit und Wertschätzung – teilweise im Übermaß – auf sich versammeln, und jenen, die weitgehend unsichtbar bleiben, die schlecht vernetzt und isoliert sind, denen es an Anerkennung mangelt.”
Für mich ist diese vergessene Mittelschicht eine plausible Erklärung, warum sich in meinem engsten Freundes- und Bekanntenkreis immer mehr Menschen für “Verschwörungstheorien” öffnen. Etliche hatte ich bislang als nüchterne und bodenständige Menschen erlebt. Ich frage mich, ob sie sich – wie Reckwitz beobacht – von der Politik und Gesellschaft ebenfalls nicht beachtet und wertgeschätzt fühlen.
Ein befreundetes Unternehmerpaar gibt dies auch offen zu: Als Führungskräfte mit 50 Mitarbeitern agieren beide sehr innovativ und engagieren sich auch gesellschaftlich stark. Ich schätze sie persönlich sehr und bin bin überrascht, als mir berichten: “Wir vermissen schon seit längerer Zeit die Wertschätzung der lokalen Politik und auch der Medien. Unser gesellschaftliche Engagement ist der Presse schon seit Jahren egal. Darüber wird nicht berichtet”.
Vergessene Mittelschicht: Die Sehnsucht erkannt zu werden
Bereits vor der Corona Krise habe ich über “Die tiefe Sehnsucht erkannt zu werden” geschrieben. Sie steckt in jedem Menschen und führt nun zu dem aufgestauten Frust von etlichen Bürgern, der sich in aggressiven Kommentaren und Protesten einen Weg bahnt.
In der letzten Woche war ich sehr überrascht, dass ich von fremden Menschen, denen ich persönlich noch nie begegnet bind, mit Hassbotschaften überschüttet wurde. Auslöser war offensichtlich mein Kommentar zu Eva Herman, die aktuell von vielen als Ikone der Protestbewegung geschätzt wird. Während ich bei ihr Fakten vermisse, sind viele ihrer Follower überzeugt, dass die Meinungen der Ex-Tagesschausprecherin “glaubwürdige Fakten” sind.
Leider haben mir nach meinem letzten Artikel auch langjährige Freunde die Freundschaft gekündigt. An Eva Herman – so scheint es – scheiden sich die Geister. Auch langjährige Leser meines Blogs haben ihn unter Protest abbestellt, weil ich durch meine Kritik nun “nicht mehr glaubwürdig” für sie sei.
Der Paternoster der Abstiegs- und Aufstiegsgesellschaft
Zurück zu Andreas Reckwitz und dem “Paternostereffekt der Abstiegs- und Aufstiegsgesellschaft.” Drei Faktoren sind für ausschlaggebend: Den Aufstieg der Wissensarbeit, der auf der anderen Seite einen “deutlichen Zuwachs einfacher Dienstleistung” mit sich bringt. Dann die Bildungsexpansion mit immer mehr Hochschulabsolventen. Und schließlich der kulturelle Wertewandel.
Der Soziologe spricht von einer “stillen Revolution”: Die Disziplin wird von der Selbstentfaltung verdrängt: “Die Wünsche des Ichs und dessen Potenziale zu entfalten”. Damit kommt die alte Mittelklasse unter Druck und geht in die kulturelle Defensive. Sie lebt meist in den Klein- und Mittelstädten, ist weniger mobil, aber stark regional verwurzelt.
Das Dilemma: “Die Provinz droht zum Land räumlich Abgehängter zu werden”, so Reckwitz. “Wie sollen die Kauffrau oder der Handwerksmeister aus der Provinz sich einordnen?” Ihr Leben erscheint in der Wissensökonomie zweitklassig. Damit sind wir beim Kern: Der Paternoster führt nach meiner Einschätzung zu einer Identitätskrise im alten Mittelstand: Welche Bedeutung haben wir als langjährige Leistungsträger noch in diesem Land?
An dieser Stelle muss aus meiner Sicht ein schnelles Umdenken in Politik und Medien geben: Wenn sich die absteigende Mittelklasse weiterhin “nicht gesehen und wertgeschätzt fühlt”, besteht die Gefahr, dass sie vom Populismus der radikalen Parteien eingesammelt werden.
Nun bin ich gespannt auf Ihre Kommentare: Wie beurteilen Sie als Selbständige und Führungskräfte die Thesen von Professor Reckwitz? Gibt es nach Ihrer Ansicht eine vergessene Mittelschicht?
Lieber Rainer,
bereits zum letzten Blog hatte ich geschrieben, dass ich ihn vorbehaltlos unterstreichen kann. das will ich gern erneut sagen, auch wenn sich andere darüber geärgert haben.
Bei Reckwitz habe ich das umfangreiche Buch “Singularitäten” gelesen, in dem wohl ähnliches steht.
Ich frage mich, wie es wohl gelingen kann, die alte Mittelschicht wieder Wert zu schätzen in dem derzeitigen gesellschaftlichen Klima. Darüber nachzudenken finde ich höchst spannend um der Zukunft unserer Gesellschaft willen.
viele Grüße
Gerhard
Lieber Herr Wälde,
auch mich irritiert der wahrzunehmende Stimmungsumschwung in meiner unmittelbaren persönlichen Umgebung. Allerdings ist das eher die Ausnahme. Jedoch ist eine nennenswerte Zahl von Freunden und Bekannten durch diese (aus meiner Sicht kruden) Theorien über Herkunft und Zweck einer Pandemie merklich verunsichert und versucht, sich seriös zu orientieren.
Eine schwer erkrankte Mandantin von mir erzählte mir einmal, dass sie zu ihrer Krankheit Unmengen von unterschiedlichsten Informationen, vor allem was die Prognose der Genesung betrifft, im Netz hätte recherchieren können. Sie verzichtete jedoch bewusst darauf und konzentrierte sich auf Rat und Unterstützung aus wissenschaftlich fundierten Quellen. Sie sagt, dass hätte ihrer Seele das Leben gerettet. Das habe ich mir zum Vorbild genommen.
Ich stimme Ihnen zu, dass die Politik sich schleunigst auf die von Ihnen beschriebene veränderte Si
tuation einstellen muss. Es bedarf darüber hinaus auch eigenen Denkens und abgeleiteten Handelns.
Ich begrüße Ihren offenen Diskurs in Ihrer gewohnt wertschätzenden Art und danke Ihnen, dass Sie nicht nachlassen, die Dinge, die Sie bewegen, offen zu formulieren.
Zu “Hassbotschaften” fällt mir ein: Wer selber nichts weiß, muss glauben, was einem erzählt wird.
In diesem Sinne bleiben Sie gesund und aktiv!
Beste Grüße
Ina Gärtner
Vielen Dank für Ihre persönliche Rückmeldung. Im persönlichen Gespräch wird mir bewusst, wieviele Menschen momentan Angst haben – auch das Gefühl, die Kontrolle über ihr gewohntes Leben zu verlieren. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, weil ich dies in der Corona-Krise selbst mehrfach gespürt habe.
Spannend bleibt für mich die Frage, aus welchen Quellen schöpfe ich neue Hoffnung und Mut? Was gibt mir Orientierung und Halt in dieser Krise? Hier hoffe ich, dass es genügend “Leuchttürme” gibt, die ihre Position halten.
Guten Morgen Herr Wälde,
ich verfolge zur Zeit sehr intensiv Ihre Artikel, da ich mich durch Politik und Medien zur Zeit oft verunsichert fühle. In Ihren Artikeln habe ich das Gefühl und die Gewissheit, dass die Dinge auf den Punkt gebracht werden und so für mich Klarheit in die Flut von Informationen bringen.
Durch die Vielzahl von widersprüchlichen Informationen werden viele Menschen verunsichert und bekommen Angst. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er einen Schuldigen sucht, den er für diese, schwer zu begreifende Situation, verantwortlich machen kann. Statt sich selber zu informieren oder auf sachliche Informationen zurück zu greifen, ist es einfacher sich mit reißen zu lassen.
Was ich nur traurig daran finde ist, dass es viele sind, die von Ihrer Intelligenz her wachsamer sein sollten.
Ich hoffe, dass Sie weiterhin so Fakten orientiert schreiben.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende und bleiben Sie gesund.
Mit besten Grüßen
Kathrin Meschede
Herzlichen Dank, liebe Frau Meschede, für Ihre ermutigenden Zeilen. Ich werde in der kommenden Woche einen Hintergrund schreiben, wie Medien arbeiten. Ich glaube, das hilft auch in der aktuellen Diskussion, wenn es um die Fragen von Wahrheit und Fake News geht.