Mein Beitrag zur “Vierten Gewalt” hat letzte Woche viele Leserreaktionen ausgelöst. Heute nun die Fortführung, die aufzeigt, wie Medien zunehmend die Politik beeinflussen.

Foto: Laurence Chaperon

Gibt es eine staatlich gesteuerte Presse?

Im ersten Beitrag “Ist den Medien noch zu trauen?” habe ich den aktuellen Spiegelbestseller “Die vierte Gewalt” zum Anlass genommen, um die veränderte Rolle der Medien zu beleuchten. In den letzten 40 Jahren habe ich als Journalist und Regisseur in allen Sparten gearbeitet: Von Print, Radio bis zu TV. Von daher finde ich das Buch von Richard David Precht und Harald Welzer besonders spannend.

Die beiden beleuchten anhand der Corona und Ukraine-Krise “wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist.” Sie greifen in ihrem Buch die Beobachtung vieler Bürger auf, dass die Berichterstattung in den Leitmedien sehr einheitlich erscheint. Diese Beobachtung führt dazu, dass “alternative” Medien in den sozialen Netzwerken von “Lügenpresse” und “Staatsfunk” berichten.

Beide Behauptungen halte ich für falsch. Es gibt nach meiner Beobachtung in Deutschland keine staatlich gesteuerte Presse, wie dies in autokratischen Ländern bis heute üblich ist. Wir leben in einer Demokratie, in der jeder Bürger und natürlich auch jeder Journalist sein Recht auf Meinungsfreiheit ausüben kann. Gleichzeitig gibt es Irritationen – auch bei mir als Medienmacher.

44 Prozent glauben, man könne nicht frei die Meinung sagen

Precht und Welzer zitieren eine Allensbach-Umfrage vom Juni 201. Danach meinen 44 Prozent, man könne in Deutschland – einem der freiesten Länder der Welt – seine Meinung nicht mehr frei äußern. Das ist der höchste Wert seit 1953 – und 26 Prozent mehr als noch 10 Jahre zuvor.

“Ganz offensichtlich handelt es sich hierbei nicht um eine kleine Minderheit und die vernachlässigtere Sicht radikalisierter Außenseiter”, so die Autoren. “Es ist ein hochdramatischer Befund im Hinblick auf das Demokratievertrauen in unserem Land.”

2022 haben RTL und dtv eine repräsentative Studie in Auftrag gegeben. Danach hatten nur noch 46 Prozent Vertrauen in die Presse. nur 32 Prozent vertrauten noch dem Fernsehen. Am besten schnitt das Radio mit 55 Prozent ab.

Diese Zahlen finde ich als Medienmacher sehr alarmierend. Doch der Auslöser für diesen schleichenden Prozess liegt nach meiner Beobachtung 10 Jahre zurück.

Wenn sich eine journalistische Meute bildet

Der erste gravierende Bruch im politischen Journalismus lässt sich sehr gut an dem angeblichen Skandal um den Bundespräsidenten Christian Wulff festmachen. 2012 haben alle Medienhäuser eine konzertierte Kampagne gefahren und Wulff mit falschen Anschuldigungen vor sich hergetrieben.

In meinem Blog habe ich darüber mehrfach berichtet – auch über den Freispruch von Wulff. Einer der Beteiligten in dieser medialen Schlammschlacht war Harald Welzer, der damals in der FAZ über Wulff schrieb. Erst jetzt – nach 10 Jahren – entschuldigt er sich in seinem Buch “Die vierte Gewalt” für sein damaliges Fehlurteil.

Er gibt öffentlich zu, dass er “auf ungute Weise aktiver Teil einer journalistischen Meutebildung geworden ist.” Welzer ergänzt “Das ist ein perfektes Beispiel wie attraktiv Gala-Journalismus für die Täter und wie fahrlässig oder auch brutal er gegenüber dem Opfer sein kann.”

Obwohl Christian Wulff juristisch längst freigesprochen ist, haben sich die meisten Medien-Akteure bis heute nicht entschuldig. Nur wenige Medien wie “Die Zeit” haben ihren Anteil später kritisch beleuchtet. Doch genau diese Selbstkritik fehlt in der aktuellen Krise. “Der Angriff der Leitmedien gilt heute in erster Linie der Person und nicht der Position – ein rapide sinkendes Anstandsniveau.”

Nichtgewählte Journalisten wollen Politik machen

Precht und Welzer diagnostizieren einen Rollenwechsel: “Die Politik soll von den Leitmedien nicht schlichtweg kontrolliert, nein sie soll oft genug mit Macht zu Entscheidungen getrieben werden.” In der Ukrainekrise wurde dies im Frühjahr deutlich. Die Autoren zeigen auf, wie “nahezu geschlossen einseitig” in den deutschen Leitmedien die Lieferungen schwerer Waffen nicht nur gutgeheißen, sondern vom Bundeskanzler nachdrücklich gefordert wurde.

Die Autoren nennen diesen Vorgang “moralische Hyperventilierung und der Hang zur Diffamierung Andersdenkender.” Beim Zuschauer entsteht damit der gefährliche Eindruck, der Staat würde die Medien manipulieren. Doch das stimmt nicht. Deutschland ist keine Autokratie.

Wir leben in einer Demokratie mit einer freien, marktwirtschaftlichen oder gebührenfinanzierten Medienlandschaft. Doch die Leitmedien agieren in dieser Krisenzeit sehr unklug, wie auch Precht und Welzer attestieren: “Nichtgewählte Journalisten wollen der Politik nicht nur auf die Finger schauen, sondern sie wollen sie machen. Und das gelingt ihnen ziemlich gut.”

Die Gefahr besteht in der Homogenität der Meinung

In meinem Freundeskreis werde ich manchmal belächelt, wenn ich auf unser bewährtes Mediensystem hinweise. Manche halten mich für naiv, andere für einen Romantiker. Doch beides trifft nicht den Kern des Dilemmas. “Eine starke Homogenität in der Meinung braucht weder Anweisungen noch einen Druck von oben”, so Precht und Welzer. “Der Druck entsteht aus wechselseitiger Orientierung an den anderen, aus Angst vor Abweichung, aus Gruppendenken.” Bei Christian Wulff waren die gravierenden Folgen zum ersten Mal sichtbar.

Journalisten lesen und hören, was andere Journalisten sagen. Sie orientieren sich an den Artikeln und Beiträgen ihrer Kollegen. Erkennen schnell den Konsens. Das ist nichts Neues, sondern sorgte in den letzten Jahrzehnten für eine Pluralität der Meinungen. Die Rundfunkräte als Kontrollgremien achten darauf, dass in den politischen Redaktionen auch Vertreter der unterschiedlichen politischen Meinung sitzen. Selbst die Intendanten der ARD Anstalten konnten über Jahrzehnte dem konservativen oder liberalen Lager zugeordnet werden.

In politischen Talkshows und auch in den Kommentaren der Hauptnachrichtensendungen gab es linke und rechte Positionen. Denken Sie nur an Kienzle und Hauser, die bis 2000 das Politik-Magazin “Frontal” moderiert haben. Der Kick der Sendung lag darin, dass Hauser der CDU nahe stand und Kienzle SPD-Anhänger war.

Politik brauchen breite Meinungskorridore

Doch das ist Vergangenheit: “Aus den früheren Felsformationen sind poröse Termitenhügel geworden. (…) Parallel zum Verlust der Konturen nimmt der Gala-Journalismus in dem Maß zu, in der die politischen Unterschiede der etablierten Parteien abnehmen”, so Precht und Welzer.

Damit das Vertrauen der Bürger in Medien und Politik wieder steigt, brauchen wir eine Vielfalt von Meinungen. Nicht nur am Stammtisch, sondern auch bei Anne Will, Sandra Maischberger und Maybrit Illner. Die Meinungskorridore müssen breiter werden. Angriffe müssen sich auf die politische Meinung fokussieren und statt den Andersdenkenden als Person ins Abseits zu stellen.

Lassen Sie mich zum Schluss auf eine Ikone der Streitlust hinweisen: Alice Schwarzer. Zu ihrem 80. Geburtstag hat die ARD nicht nur einen zweiteiligen Spielfilm, sondern auch einen Dokumentarfilm gedreht, der in der Mediathek zu finden ist: Die Streitbare.

Im Film wird sie von der Schauspielerin Nina Gummich dargestellt. Sie beschreibt ihr Vorbild so: “Für mich ist es ein nahezu einmaliges Phänomen, wie jemand, der so durch die Presse gehetzt worden ist über Jahrzehnte und ohne Unterlass, immer noch so lustvoll, lebensbejahend und aufrecht stehen kann wie sie.”